Synthetische Biologie Forscher wollen neuartige Organismen erschaffen

Eine wachsende Schar unkonventioneller Forscher versucht, synthetische Organismen zu erschaffen. Die künstliche Biologie soll nützliche Lebewesen nach Maß hervorbringen – und könnte endlich die Frage beantworten, was Leben überhaupt ist.
Von Birgit Herden

Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen, steht kurz bevor: Nach vergeblichem Abhorchen des Nachthimmels, nach absurden Fantasien über andersartige Fremde irgendwo da draußen wird uns ein erster nüchterner Blick auf die noch unbekannten Lebensformen vergönnt sein. Allerdings dürfte die erste Begegnung gänzlich anders verlaufen als gedacht. Keine mandeläugigen Humanoiden oder schleimtropfenden Monster werden uns entgegentreten, viel eher werden die ersten Aliens mikroskopisch kleine Gebilde sein – und wir werden sie nicht auf fernen Planeten finden, sondern in heimischen Laboren.

Denn eine kleine, aber wachsende Truppe unkonventioneller Forscher rund um die Welt hat sich aufgemacht, eine neue Biologie zu erdenken. Die synthetische Biologie, zunächst nur dem Spieltrieb der Ingenieure und der Neugier von Biologen entsprungen, will neue Geschöpfe erschaffen – und sie für die Menschheit arbeiten lassen. Sie sollen Medikamente oder Werkstoffe hervorbringen, die die Natur nicht oder nur widerwillig hergibt. Sie sollen wahlweise Krebs bekämpfen, schädliche Stoffe aufspüren und vernichten, Energieträger wie Wasserstoff produzieren oder Dinge hervorbringen, an die wir noch gar nicht denken.

Manche der neuen Wesen werden Variationen der uns bekannten sein, andere aber werden auf neuen Makromolekülen und von Menschen erdachten Bauplänen beruhen. Sie könnten sich weiterentwickeln und neue evolutionäre Nischen besetzen, Wunder hervorbringen und vielleicht auch zur Bedrohung werden. Sicher ist: Die Aliens werden unter uns leben.

Aus der abseitigen Spielwiese der synthetischen Biologie ist inzwischen ein lebhaftes Forschungsfeld mit ersten Firmengründungen entstanden. Norman Packard etwa, Gründer der Firma Protolife in Venedig, ist ein typischer Vertreter der neuen Biotech-Revoluzzer – nicht ungewöhnlich ist das völlige Fehlen einer Ausbildung in Biologie oder Chemie.

Der amerikanische Physiker und Chaosforscher geriet erstmals Ende der siebziger Jahre in die Schlagzeilen, als er zusammen mit einigen befreundeten Studenten einen Computer entwickelte, der den Lauf einer Roulette-Kugel vorhersagen sollte. Schon früh hatte er sich aber auch mit der Simulation komplexer biologischer Prozesse beschäftigt – und diese Faszination ließ Packard nicht mehr los: "Ich wollte die grundlegenden Mechanismen der chemischen Evolution verstehen."

Gesetzmäßigkeiten des Lebens

Mit Protolife möchte Packard eine Entwicklung anstoßen, wie sie schon einmal vor mehr als drei Milliarden Jahren stattgefunden haben muss. Wie damals die ersten Makromoleküle entstanden, wie sie sich zu immer komplexeren Gebilden zusammenlagerten und wie sie schließlich begannen, sich selbst zu replizieren, werden wir wohl niemals genau herausfinden.

Doch die Gesetzmäßigkeiten chemischer Reaktionen und evolutionärer Prozesse gelten noch heute, und deshalb müsste sich etwas Ähnliches unter geeigneten Bedingungen wiederholen lassen – jene magisch anmutende Grenzüberschreitung, bei der aus unbelebter Chemie plötzlich Leben entsteht.

Damit wir ein Gebilde als lebendig bezeichnen, muss es nach herrschender Übereinkunft drei Eigenschaften aufweisen: Es muss sich selbst replizieren, es muss sich von einer Generation zur nächsten weiterentwickeln können, und schließlich muss es über einen Stoffwechsel verfügen, der Energie einsammelt und diesen Prozess antreibt. Während über diese grundlegenden Eigenschaften weitgehend Einigkeit herrscht, sind die weiteren Details offen.

Die meisten Forscher sind aber der Ansicht, dass sich ein Lebewesen von seiner Umgebung abgrenzen sollte – die irdische Biologie löst diese Aufgabe mit Membranen aus fettähnlichen Substanzen, die sich im wässrigen Medium zu dünnen Filmen zusammenlagern und rundliche Kompartimente – Zellen also – bilden. Diesen Schritt versucht Protolife nachzuvollziehen, indem es ähnliche Membran-Bläschen, so genannte Vesikel, mit unterschiedlicher chemischer Zusammensetzung erzeugt.

"Die Vesikel müssen haltbar und gleichzeitig flexibel sein", sagt Packard. Die Grundbausteine von Protolifes Urzellen sind dabei wesentlich einfacher als die der heute lebenden Wesen, und manchmal entstehen anstelle der einfachen runden Gebilde ganz neue Formen.

Weiter in Teil 2: Natürliche Auslese im Labor, umgebaute Bakterien

Packard ist nicht der einzige Forscher, der neues Leben schaffen will. Auch Jack Szostak experimentiert mit primitiven künstlichen Zellen. Am Howard Hughes Medical Institute, einem Non-Profit-Labor für biologische Grundlagenforschung im US-Bundesstaat Maryland, hat er kürzlich einfache Vesikel erzeugt, die RNA-Moleküle enthalten und dadurch spontan größer wurden – ganz einfach, indem sie Material von leeren Vesikeln aufsogen.

RNA ist ein der DNA verwandtes Makromolekül, das als Informationsspeicher dient, gleichzeitig aber auch chemische Prozesse katalysieren kann und deshalb bei der Entstehung von frühem Leben eine zentrale Rolle gespielt haben könnte.

Überraschend ist, dass es bei der RNA in Szostaks Urzellen letztlich nur auf eine einzige Eigenschaft ankommt: "Unsere Versuche zeigen, dass man für einen darwinschen Konkurrenzkampf unter Zellen einfach nur RNA benötigt, die sich im Zellinneren vervielfältigt", sagt Szostak. Entstünden nämlich durch zufällige Replikationsfehler RNA-Moleküle, die sich schneller replizieren und deren Menge dadurch schneller zunimmt, dann würden diese Vesikel schneller als andere wachsen.

Mit dem Versuch einer zweiten Urzeugung gehen die Bio-Pioniere gleichsam wie Ingenieure vor, die ein neues Auto entwerfen – und dabei gleich das Prinzip von Rad und Motor, ja selbst die Form der Schrauben in Frage stellen.

Andere Forscher sind pragmatischer: Sie schlachten bewährte Modelle aus, reduzieren sie auf einige wesentliche Elemente und füllen das entleerte Chassis dann mit neuem Inhalt. Im Gegensatz zu der "Bottom-up"- Konstruktion geht dieser "Top-down"-Ansatz von einfachen Bakterien aus, deren Genom aber neu geschrieben werden soll.

So hat sich auch der Biotech-Entrepreneur J. Craig Venter nach der spektakulären, privat finanzierten Sequenzierung des menschlichen Genoms die synthetische Biologie als neue Herausforderung erwählt. An dem von ihm finanzierten J. Craig Venter Institute versucht er zusammen mit dem Medizin-Nobelpreisträger Hamilton Smith herauszufinden, welche Gene ein Bakterium auch unter günstigen Bedingungen unbedingt zum Überleben benötigt und welche zur Luxus-Ausstattung für besondere Bedürfnisse gehören. Ausgangspunkt ist ein winziges, schon von Natur aus spärlich bestücktes Bakterium namens Mycoplasma genitalium.

Mit 517 Genen besitzt es von allen Lebewesen das kleinste bekannte Erbgut, und dem rücken Venter und Smith nun zu Leibe. In ihrer jüngsten Arbeit haben sie 100 Gene identifiziert, die sich einzeln ausschalten lassen, ohne dass der Verlust dem harmlosen Einzeller, der im menschlichen Geschlechtstrakt und in den Atemwegen gedeiht, den Garaus macht. Der Zweck des angestrebten Minimalgenoms ist die größtmögliche Vereinfachung der unberechenbaren Komplexität des irdischen Lebens. Dieses Grundmodell, so hoffen Smith und Venter, ließe sich dann vollständig als Computermodell simulieren, analysieren und verstehen – und darauf aufbauend könnten sie zusätzliche Funktionen einbauen.

An erster Stelle auf der Wunschliste von Smith und Venter steht die Fähigkeit synthetischer Organismen, auf biologischem Weg die Energie der Sonne zu nutzen und in Kraftstoffen zu speichern. Jahr für Jahr entstehen auf der Erde 120 Milliarden Tonnen neue Biomasse – darin steckt fast achtmal so viel Sonnenenergie, wie die Menschheit in der gleichen Zeit in Form von fossilen Brennstoffen verbraucht. Im Prinzip lassen sich auch heute schon Feldfrüchte in Kraftstoff umwandeln – Hefezellen etwa können energiereiche Kohlehydrate zu Alkohol vergären. Doch dieser Umweg ist ineffizient: Weniger als ein halbes Prozent der Sonnenenergie landet letztlich im Tank.

Bakterien gegen Malaria

An einer ähnlichen Neukonstruktion arbeitet auch Jay Keasling an der Universität von Kalifornien in Berkeley: Dem Chemiker ist es gelungen, mit zehn Genen aus drei verschiedenen Organismen einen völlig neuen Stoffwechselweg in gewöhnlichen Darmbakterien zu etablieren, sodass die Einzeller die unmittelbare Vorstufe des Malaria-Medikaments Artemisinin herstellen.

Artemisinin ist Bestandteil einer schon seit Jahrhunderten bekannten chinesischen Heilpflanze. Der hochwirksame Wirkstoff wäre für die von Malaria heimgesuchten afrikanischen Länder ein Segen, doch sowohl die Extraktion als auch die chemische Synthese sind aufwendige Verfahren und machen das Mittel für viele Länder unerschwinglich.

Was die neue Disziplin am deutlichsten von den bisherigen Arbeiten der Biotechnologie abhebt, ist ein neues Selbstbewusstsein, eine neue Denk- und Herangehensweise: Nur was man auch selbst bauen kann, hat man wirklich verstanden, so lautet das Credo der Bioingenieure.

"Biologen tendieren dazu, Fragen zu stellen und nach den Antworten zu suchen. Ingenieure dagegen versuchen, einfache Dinge zu konstruieren, die sie verstehen können", so beschreibt Ron Weiss den Paradigmenwechsel. Der Informatiker gehörte Ende der 90er Jahre als Doktorand zu einer Gruppe, die sich um den legendären Computerwissenschaftler Tom Knight am MIT formierte.

Schon dessen frühere Arbeiten des "Amorphous Computing" waren von biologischen Systemen inspiriert worden – doch Knight sehnte sich nach einer neuen Herausforderung und begann, an der Abteilung für Computerwissenschaften ein biologisches Labor aufzubauen.

Auch Weiss war von dem Vorhaben begeistert: "Während meiner Arbeit als Programmierer hatte ich biologische Systeme studiert, um mir von dort Inspiration zu holen. Aber dann wurde mir plötzlich klar, dass ich nicht Computer nach biologischem Vorbild, sondern viel lieber biologische Organismen ähnlich einem Computer programmieren wollte."

Programmierter Selbstmord

Heute versammelt Weiss in seiner eigenen Gruppe an der Universität von Princeton Biologen und Ingenieure um sich und erstaunt die Wissenschaftsgemeinde mit Bakterien, die je nach Umgebung rot oder grün fluoreszieren und dadurch farbige Muster entstehen lassen. Solche Mechanismen ließen sich im Prinzip als biologische Sensoren einsetzen. Andere der von Weiss programmierten Bakterien begehen je nach Populationsdichte Selbstmord, anstatt sich so lange weiter zu vermehren, wie es ihre Umgebung erlaubt – eine Eigenschaft, die vielleicht einmal bei industriellen Prozessen das Wachstum von Mikroben kontrollieren könnte.

"Manche Dinge in der Zelle funktionieren tatsächlich wie ein digitaler Schaltkreis", sagt Weiss. Aber gerade an den selbstmörderischen Bakterien wird auch eine der Eigenschaften des Lebendigen deutlich: die Mutation. Diejenigen, die mutieren und deshalb länger leben, setzen sich durch und machen den programmierten Selbstmord wieder zunichte. "Eben diese Unterschiede müssen wir immer im Kopf behalten", sagt Weiss.

"Oft muss man akzeptieren, dass man das System nicht vollständig versteht, und dass es trotzdem funktionieren kann." Eben damit wollen sich die "Bottom-up"-Forscher nicht abfinden.

"Wir müssen aufhören, an komplizierten Systemen nur herumzuspielen", sagt John McCaskill von der Ruhr-Universität Bochum, "und stattdessen die zugrundeliegenden Prozesse verstehen." McCaskill koordiniert den von der EU geförderten Forschungsverbund PACE (Programmable Artificial Cell Evolution), dem auch Protolife angehört. Der Wissenschaftler erforscht, wie aus grundlegenden chemischen Prozessen geordnete Strukturen entstehen können. Er entwirft Systeme, in denen hunderte von chemischen Reaktionen in winzigen Kanälen auf Chips ablaufen und von Mikroelektroden gesteuert werden. Eine Fluoreszenzkamera filmt diese Reaktionen und überträgt die Bilder an einen Rechner, der wiederum die Elektroden ansteuert.

Für McCaskill ist Leben auch in einer solch hybriden Form, als Interaktion von Chemie und Elektronik, denkbar – denn wo steht geschrieben, dass Erbinformation nur in Form von DNA abgespeichert werden darf? So könnten sie also auch aussehen, die ersten Aliens: Konstrukte aus Metall, Silizium und Chemie, in denen Stoffwechsel eine evolutionäre Entwicklung vorantreibt.

Es mag noch Jahrzehnte dauern, bis die ersten vollkommen synthetischen Lebewesen ein eigenständiges Leben aufnehmen. Sie werden uns primitiv erscheinen, aber doch werden es die ersten sein, mit denen wir nicht Jahrmilliarden alte Vorfahren gemein haben. Und irgendwann in einer fernen Zukunft werden ihre Nachkommen vielleicht darüber debattieren, ob das Leben zufällig entstanden ist – oder ob nicht doch ein Schöpfergott, ein "intelligenter Designer" dahinter stecken muss.

Technology Review , Heise Zeitschriften Verlag, Hannover

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