Skandal um EU-Gesundheitskommissar Wer hat John Dalli verraten?

John Dalli: Das Opfer einer europäischen Intrige?
Foto: Yves Logghe/ APDas Produkt, das den EU-Gesundheitskommissar sein Amt kostete, ist so simpel wie umstritten. Snus, das sind kleine Zellulosekissen mit Tabak, die man sich hinter die Oberlippe schieben kann. Irgendwann wird der Speichel braun, Nikotin strömt durch die Mundschleimhaut in Blut und Gehirn und schenkt den Snusern den ersehnten Kick. Und einigen von ihnen wohl auch Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Snus ist jahrhundertealtes schwedisches Kulturgut, sagt die Tabakindustrie. Snus ist ein gefährliches Suchtmittel, warnen Tabakgegner. In Schweden ist der Lutschtabak erlaubt, im Rest der Europäischen Union verboten.
EU-Gesundheitskommissar John Dalli soll dem Snus-Hersteller Swedish Match über einen Mittelsmann angeblich angeboten haben, das Verbot aufzuheben - gegen 60 Millionen Euro Schmiergeld. So lautet der Vorwurf, der im Oktober 2012 bekannt wurde. Damals, als Dalli sein Amt räumen musste.
Der Fall Dalli erschüttert Europas Hauptstadt bis heute. Waren doch höchste Brüsseler Würdenträger, die Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf , ja sogar EU-Kommissionschef José Manuel Barroso persönlich in "Tobacco-Gate" involviert. Zahlreiche Erkenntnisse und Dokumente, die SPIEGEL ONLINE vorliegen, zeigen: Eine Schmiergeldforderung von John Dalli, die er für die angebliche Liberalisierung von Snus verlangt haben soll, gab es nicht. Die Ermittlungen von Olaf sollen hingegen Persönlichkeitsrechte verletzt haben, sagt die EU-Parlamentarierin Ingeborg Gräßle - die Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf bestreitet dies. Nun sollen die Gerichte entscheiden. In Malta läuft ein Verfahren gegen den Mittelsmann, einen Parteifreund Dallis. Der frühere Kommissar selbst hat die Europäische Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt.
Der Skandal
Winter 2011/12: Anderthalb Jahre lang arbeitet John Dalli schon am Entwurf für die neue EU-Tabakproduktrichtlinie. Der maltesische Kommissar hat ambitionierte Pläne: Zigaretten sollen im Geschäft nicht mehr zur Schau gestellt werden dürfen, Geschmacksstoffe wie Erdbeer- oder Schokoladenaroma, die den Tabakgeschmack überlagern, sollen verboten werden. Die Warnhinweise auf den Verpackungen sollen teils doppelt so groß werden wie bisher. Sogar vom "Plain Packaging" ist die Rede: Schachteln im Einheitsdesign ohne Markenlogo. Ein Alptraum für Zigarettenhersteller.
Gewaltig war der Ansturm der Tabakmultis
und hoher EU-Würdenträger auf Dalli
All das sind zunächst Gedankenspiele, erst Ende 2012 will Dalli seine Pläne offiziell vorstellen. Aber die Ideen genügen, um die Tabakindustrie in Alarmstimmung zu versetzen. Und auch Brüsseler Funktionäre werden nervös. Schließlich hat die EU seit 2004 ein Kooperationsabkommen mit Philip Morris International, British American Tobacco und anderen Konzernen abgeschlossen. Fast zwei Milliarden Euro hat die Industrie der EU und ihren Mitgliedstaaten zugesagt - und bereits wertvolle Informationen geliefert: etwa an die Anti-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf, die gegen Schmuggler und Fälscher kämpft.
Gewaltig ist der Ansturm der Tabakmultis und hoher EU-Würdenträger auf Dalli. So gewaltig, dass vergleichsweise kleine Unternehmen wie der Snus-Hersteller Swedish Match kaum zum Kommissar vordringen. Für die Schweden geht es um viel: Ein Snus-Totalverbot in ganz Europa würde ihre Existenz zerstören. Eine Aufhebung des Exportverbots indes würde ihnen grandiose Expansionschancen eröffnen.
Swedish Match versucht über die lokale Schiene, Zugang zum maltesischen Kommissar Dalli zu bekommen. Das Unternehmen fahndet in dessen Heimat nach Lobbyisten - und findet dort Gayle Kimberley: eine Anwältin und beurlaubte EU-Mitarbeiterin. Und Silvio Zammit, einen Restaurantbesitzer und Parteigenossen John Dallis - der behauptet, er könne Swedish Match mit Dalli in Kontakt bringen. Es kommt zu einem ersten Treffen zwischen den dreien. Später soll Kimberley gegenüber Swedish Match behauptet haben, Dalli habe für die Aufhebung des europaweiten Verbots von Snus Schmiergeld gefordert haben. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Lesen Sie hier weiter:
Nach dem Sturz
Ingeborg Gräßle mag sie nicht zählen: Die vielen Dokumente, die sie studiert hat. All die Nächte, die sie sich mit der Aufarbeitung von "Tobacco-Gate" um die Ohren geschlagen hat. All die Anträge, die sie bei der Kommission und Olaf gestellt hat, um Informationen zu bekommen. Seit gut einem Jahr befasst sich die oberste Haushaltskontrolleurin der CDU im EU-Parlament mit dem Fall. Je länger sie darüber brütet, desto sicherer ist sie: Hier ist eine Menge faul.
Gräßle und Abgeordnetenkollegen bohren nach, stellen unbequeme Fragen. Ihre Schlussfolgerungen haben sie in einem eigenen Report zusammenfasst:
- Catherine Day, Generalsekretärin der EU-Kommission, wusste laut Gräßle schon Wochen vor dem Eingang der offiziellen Beschwerde von Swedish Match gegen Dalli wegen der angeblichen Schmiergeldforderung bei ihrer Institution Bescheid - über ihren ehemaligen Kollegen, den Tabak-Lobbyisten Michel Petite. In der Anhörung von Catherine Day sagte die Generalsekretärin, dass sie am 8. oder 9. Mai informiert worden sei. Offiziell ging die Beschwerde am 21. Mai 2012 ein.
- Später hat sich Day hinter den Kulissen in den Gesetzgebungsprozess eingemischt. Sie hat versucht, den Prozess zu verzögern und hat sich gegen ein EU-weites Verbot von snus ausgesprochen. Day erklärt SPIEGEL ONLINE, nicht derart aktiv geworden zu sein.
- Die Olaf-Ermittler verschafften sich laut Gräßle über einen fingierten Anruf Zugang zu Gayle Kimberley, verhörten die Kronzeugin stundenlang unter zweifelhaften Umständen. Sie vernahmen Silvio Zammit nach Angaben von Gräßle unter einem Vorwand, besorgten sich Telefondaten und beschlagnahmten Dallis Computer ohne richterlichen Beschluss. Olaf streitet ab, illegal gehandelt zu haben.
- Gayle Kimberley hat den Hergang des angeblichen Treffens mit Dalli und der angeblichen Schmiergeldforderung offenbar erfunden. Und noch schlimmer: Die Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf wusste dies schon früh und hat es laut Gräßle der Öffentlichkeit verschwiegen. Olaf-Chef Giovanni Kessler sagt im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE, dass das Treffen stattgefunden hat und betont, dass Olaf "den wahren Hergang des Treffens aufgedeckt hat."
Am 20. März 2013 trifft sich der französische Grünen-Europaabgeordnete José Bové, um Aufklärung bemüht, mit dem Swedish-Match-Lobbyisten Johan Gabrielsson, er zeichnet das Gespräch mit dessen Wissen auf Tonband auf . Der Tabakmanager gesteht Bové in dem Gespräch: Er wusste schon länger, dass das angebliche Treffen zwischen Kimberley und Dalli nie stattgefunden hat.
"Am Anfang war ich kurz vor dem totalen Zusammenbruch"
Erfahren hat Gabrielsson das ausgerechnet von Olaf. "Es geschah erst während der langen, langen Untersuchungsgespräche mit Olaf", berichtet der Schwede, "dass sie mir plötzlich sagten: 'Weißt du, dass Gayle nicht beim zweiten Treffen dabei war?'"
Zwei Monate vor dem Geständnis, bei einer Anhörung im Europaparlament am 10. Januar 2013, haben die Swedish-Match-Vertreter dies noch verschwiegen. Gabrielsson behauptet in dem Gespräch mit Bové, dies sei auf Bitte von Olaf geschehen.
Gayle Kimberley hat John Dalli am 10. Februar also nicht getroffen. Der Kommissar wusste von der Schmiergeldforderung seines Parteigenossen mutmaßlich nichts. Es gibt keinerlei Beweise für seine Verstrickung. All dies war auch schon im Untersuchungsbericht der Behörde angedeutet, als Dalli stürzte. Der Bericht aber lag Barroso vor. Erst vor wenigen Monaten wurde er der Zeitung "Malta Today" durchgestochen. Dalli hatte sein Amt längst verloren.
Epilog: Was vom Skandal übrig blieb
Jetzt verabschiedet das EU-Parlament die neue Tabakproduktrichtlinie. Sie sieht einige Einschränkungen für die Hersteller vor. Aber sie ist längst nicht so streng wie Dalli wollte. Europas Politiker, belagert von einem Heer von Lobbyisten, haben den Entwurf aufgeweicht. Mit Snus bleibt alles beim Alten: erlaubt in Schweden, verboten im Rest der EU.
Der Tabak-Lobbyist Michel Petite bleibt noch monatelang Ethikbeauftragter der EU-Kommission, er wird im Dezember 2013 in Ehren verabschiedet. José Manuel Barroso, Catherine Day und Giovanni Kessler sitzen fest in ihren Ämtern. Kein EU-Politiker ist wegen "Tobacco-Gate" zurückgetreten. Bis auf den Hauptdarsteller .
"Am Anfang war ich kurz vor dem totalen Zusammenbruch", erzählt John Dalli im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Ich fand überhaupt keinen Schlaf mehr, verlor die Kontrolle über meinen Körper, war geistig total blockiert und depressiv."
Sein guter Ruf war binnen weniger Stunden ruiniert, damals im Oktober 2012. Komplett wieder hergestellt wird er wohl nie. Obgleich Dalli allen Anzeichen nach unschuldig ist.