
Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL

SPIEGEL-Klimabericht Europas grüne Zauberei

Liebe Leserin, lieber Leser,
»Wenn fossiles Gas nur für eine Übergangszeit nachhaltig ist«, fragte Stefan Rahmstorf Anfang der Woche auf Twitter , »ist es dann nicht per Definition nicht nachhaltig?« Die semantische Unschärfe, die der Potsdamer Klimaforscher bei den Vorschlägen zu neuen Nachhaltigkeitsregeln der EU für den Energiemarkt ausgemacht hat, ist allerdings noch das kleinste Problem. Die Idee, Gaskraftwerke (und auch Atommeiler) unter bestimmten Kriterien als Grün zu labeln, sorgt für Kritik.
Worum geht es? In der Silvesternacht verschickten Beamte der EU-Kommission den Entwurf für einen Rechtsakt zur sogenannten Taxonomie. Diese soll eigentlich dabei helfen, geplante Investitionen auf Nachhaltigkeit umzustellen und so einen Beitrag zum Erreichen der Klimaziele in Europa leisten. Indem die EU eine Art Gütesiegel für einwandfrei grüne Investitionen vergibt, können sich Anleger leichter orientieren und einfacher nachweisen, dass sie ihr Geld in nachhaltige Projekte stecken. Dadurch würde der Energiewende mehr Geld zufließen, so die Idee. Denn richtige einheitliche Kriterien, was als »grün« einzustufen ist, fehlen bislang vielfach.
Schon länger zeichnete sich indes ab, dass zumindest auch die Atomkraft mit einem grünen Label geadelt werden könnte. Nun ist klar: Auch Gas wird wohl künftig unter bestimmten Kriterien vorübergehend als »nachhaltig« gelten – was eben nicht nur rein logisch nicht zusammenpasst, sondern auch klimapolitisch ein falsches Signal ist.
Ein Versuch politischer Zauberei
Einen extrem klimaschädlichen fossilen Brennstoff »grün« zu machen, indem man einfach beschließt, er sei »grün«, ist ein Versuch politischer Zauberei – im Ergebnis aber nichts als Hokuspokus.
Richtig ist: Im Vergleich zu Braunkohle entsteht bei der Verbrennung von Erdgas nur etwa halb so viel CO₂. Jedes Gaskraftwerk, das anstelle eines Kohlemeilers für Strom sorgt, ist also ein Schritt in die richtige Richtung beim Klimaschutz. Und weil Deutschland über Jahre hinweg beim Ausbau der Erneuerbaren getrödelt hat und nun in relativ kurzer Zeit gleichzeitig aus Kohle und Atomkraft aussteigt, wird Gas zumindest übergangsweise gebraucht – und die Kapazitäten werden sogar wachsen müssen. Der Thinktank Agora Energiewende geht etwa davon aus, dass bis 2030 die Stromgewinnung aus Gas um mehr als 60 Prozent steigen wird.
So dringend sie auch benötigt werden, »nachhaltig« sind die Investitionen deshalb aber noch lange nicht. Denn auch Gaskraftwerke stoßen noch erhebliche Mengen an Klimagasen aus . Nach Berechnungen des IPCC liegen die Emissionen bei rund 490 Tonnen CO₂-Äquivalenten pro Gigawattstunde erzeugten Stroms. Noch fataler wird die Bilanz, wenn Leckagen in der Gasinfrastruktur einberechnet werden. Einer der Hauptbestandteile von Erdgas ist Methan, das kurzfristig eine 82-mal so hohe Treibhauswirkung hat wie CO₂. Wie viel Erdgas aus dem System ungenutzt in die Atmosphäre entweicht, ist unbekannt. Eine fünfprozentige Leckage könnte die Klimawirkung von Erdgas aber leicht verdoppeln, schätzt Volker Quaschning, Professor für regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin.
Und dass Methanemissionen, die auch durch die Gasförderung entstehen, für das Klima nicht nur theoretisch ein erhebliches Problem darstellen, zeigen vor wenigen Tagen veröffentlichte neue Daten der amerikanischen NOAA: Die Konzentration von CH4 in der Atmosphäre hat den höchsten Stand seit 1980 erreicht.
Angesichts dieser Bilanz verwundert die Art der Kritik an den neuen EU-Vorschlägen vonseiten der deutschen Grünen umso mehr. In den vergangenen Tagen schossen sich auch prominente Vertreter der Partei bei ihrer Kritik nämlich vor allem auf das Nachhaltigkeitslabeling für die Atomkraft ein. So kritisch man die Technologie auch sehen kann: Bei der Bewältigung der Klimakrise ist sie nicht das Problem, sondern hilft sogar.
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