Teilchenphysik Rätsel um fehlende Neutrinos gelöst
Von der Sonne abgestrahlte Neutrinos durchqueren jede Sekunde zu Abermilliarden die Erde und durchschlagen menschliche Körper, ohne Spuren zu hinterlassen. Um wenigstens einige dieser Geisterteilchen pro Tag beobachten zu können, müssen Physiker riesenhafte Detektoren im ewigen Eis oder im Inneren eines Berges verankern.
Mit einem dieser Neutrino-Teleskope konnten nun Forscher aus Kanada, Großbritannien und den USA ein 30 Jahre altes Rätsel lösen. Ende der sechziger Jahre hatten Physiker berechnet, wie viele Neutrinos im Innern der Sonne entstehen. In Experimenten wurden allerdings weit weniger Teilchen gemessen, als das Modell vorhersagte. Also musste entweder das Wissen über die Sonne lückenhaft sein - oder das über die Neutrinos.
Die Antwort liegt, wie die Wissenschaftler nun gezeigt haben, tatsächlich im Wesen der Neutrinos. Seit längerem ist bekannt, dass es drei verschiedene Arten dieser Teilchen geben muss, die von Physikern auch als "Flavors" bezeichnet werden: das Elektron-Neutrino, das unter anderem bei den Fusionsprozessen der Sonne erzeugt wird, sowie die weit schwerer zu beobachtenden Myon- und Tau-Neutrinos.
Mit ihren Experimenten am Sudbury Neutrino Observatory (SNO) in Kanada lieferte das internationale Team den bislang besten Beleg dafür, dass die Neutrinos auf ihrem Weg zwischen der Sonne und der Erde zwischen diesen verschiedenen Flavors oszillieren. Jene Elektron-Neutrinos, die zu Myon- oder Tau-Neutrinos wurden, konnten auf der Erde vorher kaum nachgewiesen werden - so erklärt sich die zu geringe Zahl der gemessenen Teilchen.
Der in zwei Kilometer Tiefe in einer Nickelmine installierte SNO-Detektor besteht im Wesentlichen aus einer zwölf Meter großen Kugel, die mit 1000 Tonnen schwerem Wasser gefüllt ist. Dessen Moleküle enthalten anstelle des Wasserstoffs dessen Isotop Deuterium. Beim Aufprall auf das schwere Wasser verursachen Neutrinos winzige Blitze, die Rückschlüsse sowohl auf die Zahl der Elektron-Neutrinos als auch auf die Gesamtzahl aller Flavors zulassen. Zusammen mit Daten anderer Detektoren ließ sich mit diesem Verfahren die frühere Messlücke schließen.
Gleichzeitig liefern die Versuche am SNO einen Nachweis dafür, dass Neutrinos eine Ruhemasse besitzen - nur dann können die aus der Sonne stammenden Teilchen oszillieren. Seit der Physiker Wolfgang Pauli 1931 die Existenz der Neutrinos postuliert hatte, galten sie zumindest offiziell als masselos, obwohl es schon seit einigen Jahren Zweifel daran gab.
Die neuen Ergebnissen, die das Team in der Fachzeitschrift "Physical Review Letters" vorstellen wird, haben vermutlich weitreichende Folgen für Teilchenphysik und Kosmologie. Zum einen muss, wenn die Beobachtungen korrekt sind, das Standardmodell der Elementarteilchen nachgebessert werden, das von masselosen Neutrinos ausgeht. Zum andern tragen die Geisterteilchen zur Gesamtmasse des Universums bei, so dass sich für dessen Zukunft andere Szenarien ergeben könnten. Jedoch: "Obwohl es eine enorme Menge von Neutrinos im Universum gibt", erklärt der beteiligte Physiker Hamish Robertson, "machen sie vermutlich nur einen geringen Anteil seiner Gesamtmasse und seines Energievorrats aus."
Martin Paetsch