Blind für die Umwelt Multitasking überfordert Kinder

Kinder im Straßenverkehr: Oft nehmen sie ihre Umwelt kaum wahr
Foto: Patrick Pleul/ picture alliance / dpaKinder leben in ihrer eigenen Welt. Sie hören nur, was sie hören wollen. Sie sehen nur, was sie gerade interessiert. Dass nicht nur Trotzköpfe zu diesem Verhalten neigen, hat die Psychologin Nilli Lavie vom Institut für kognitive Neurowissenschaften am University College in London herausgefunden. Sogar Jugendliche bis zum Alter von 14 Jahren leiden an dieser speziellen Form von Blindheit, so das Ergebnis ihrer Studie .
Die Forscherin bat 200 Besucher des Wissenschaftsmuseums in London zu ihrem Experiment. Erwachsene sowie Kinder zwischen 7 und 14 Jahren setzten sich vor einen Bildschirm, auf dem ein großes schwarzes Kreuz erschien, das sich ständig veränderte. Später kam ein Quadrat hinzu. Die Frage war: Nehmen die Kinder das Quadrat wahr, während sie sich auf das Kreuz konzentrieren? Und gelingt den Erwachsenen diese Aufgabe besser?
Die Probanden sollten prüfen, ob die senkrechte Linie des Kreuzes kürzer oder länger ist als die waagerechte. Den Schwierigkeitsgrad des Tests erhöhten die Forscher allmählich, indem sie den Längenunterschied zwischen der waagerechten und senkrechten Linie verringerten.
Bis zu 90 Prozent der Kinder blieben blind für das Quadrat
"Bei den Kindern betrug auch bei den schwierigen Aufgaben der Unterschied in der Länge noch drei Zentimeter", sagt Lavie. Bei den Erwachsenen dagegen fielen die Unterschiede im anspruchsvollen Teil des Tests sehr viel kleiner aus, weil sie die Linienlängen besser unterscheiden können. Nur so konnte Lavie sicher sein, dass die Erwachsenen ebenso viel Aufmerksamkeit wie die Kinder aufbringen mussten. Und nur so konnte sie beobachten, wie viel Kinder und Erwachsene von ihrer Umgebung wahrnehmen, wenn sie sich auf leichte oder mittelschwere Aufgaben konzentrieren.
Im Laufe der Tests ließ die Wissenschaftlerin ein kleines schwarzes Quadrat auf dem Bildschirm erscheinen. Bei der leichten Aufgabe übersahen 70 Prozent der Sieben- und Achtjährigen das Quadrat, bei der etwas schwereren Aufgabe waren es sogar mehr als 90 Prozent. Selbst bei den 14-Jährigen war die Wahrnehmung der Umgebung stark eingeschränkt - im Vergleich zu den Erwachsenen. Vor allem, wenn die Aufgabe etwas erschwert wurde, fielen die Unterschiede zwischen den Teenagern und Erwachsenen deutlich aus. "Das hat uns überrascht", sagt Lavie.
Wahrnehmungsfähigkeit sogar noch bei Jugendlichen begrenzt
Zwar war den Wissenschaftlern bereits bekannt, dass Kinder an der sogenannten Unaufmerksamkeitsblindheit leiden, dass sie also einen Großteil ihrer Umgebung ausblenden, wenn sie sich mit etwas beschäftigen. Auch unter Erwachsenen ist der Effekt gut dokumentiert. 2004 haben Forscher gar den satirischen "Ig-Nobel-Preis" für den Beweis bekommen, dass man sogar Männer in Gorillakostümen übersieht, wenn man sich auf etwas konzentriert.
Doch hatte bislang noch niemand untersucht, wie sich diese Blindheit im Laufe der Jahre bis ins Erwachsenenalter hin verändert. "Wir wissen nun, dass bis zum Alter von 14 Jahren die Wahrnehmung der Umgebung sehr eingeschränkt sein kann", sagt Lavie. Daher sei zum Beispiel im Straßenverkehr Vorsicht geboten: "Wir sollten die Wahrnehmungsfähigkeit von Jugendlichen nicht überschätzen."
Wie der Lichtkegel einer Taschenlampe leuchtet unser Gehirn den Bereich des Sehfelds aus, auf den wir uns gerade konzentrieren. Alles andere bleibt im Halbdunkeln. Und der Stirnlappen des Gehirns bestimmt, wo der Lichtkegel hinfällt und wie breit er ist. "Kinder neigen dabei ganz besonders zum Tunnelblick, nehmen also besonders wenig wahr außerhalb dieses Aufmerksamkeitsfokus", sagt Stefan Treue, Leiter der Abteilung Kognitive Neurowissenschaften am Deutschen Primatenzentrum und an der Universität Göttingen.
Während in den ersten Lebensjahren die Nervenzellen bereits ausreifen und sich die Nervenverbindungen zwischen Sehnerv und Großhirnrinde verfeinern, finden im Laufe der Pubertät im Stirnlappen noch mächtige Umbauprozesse statt. "Dazu passen die Ergebnisse der aktuellen Studie sehr gut", sagt Treue.