
Angriff auf die Ukraine Eine 50 Jahre alte psychologische Theorie erklärt Putins Krieg


Wladimir Putin und sein Sicherheitsrat im Kreml
Foto:Sputnik / AP
»Den beiden Männern kam es so vor, als sei der Präsident mittlerweile von Jasagern umgeben, die sich bei Tischreden in Lobeshymnen über ihn ergingen und ihm erzählten, er sei von Gott gesandt worden, um das Land zu retten, während sie auf sein Wohlwollen angewiesen waren.«
Catherine Belton, »Putins Netz« (2020)
Der Sozialpsychologe Irving Janis untersuchte Anfang der Siebzigerjahre authentische Fälle, in denen politische Fehlentscheidungen von enormer Tragweite getroffen worden waren. Szenarien wie Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine also.
Es ging in den damals analysierten historischen Ereignissen aber nicht um Russland: Janis‘ zum Klassiker der Sozialpsychologie avanciertes Buch »Victims of Groupthink« (1972 erschienen) handelt von der gescheiterten Invasion in der kubanischen Schweinebucht unter US-Präsident John F. Kennedy und von den Vorgängen, die dafür sorgten, dass die US-Regierung vom japanischen Angriff auf Pearl Harbour im Zweiten Weltkrieg völlig überrascht wurde.
»Groupthink«, in Anlehnung an George Orwells »Newspeak«-Terminologie aus »1984« (»Doublethink«), definierte Janis so: »Eine Denkweise, die Menschen annehmen, wenn sie stark in eine eingeschworene Gruppe eingebunden sind, wenn das Streben der Mitglieder nach Einmütigkeit ihre Motivation schlägt, alternative Handlungsmöglichkeiten realistisch zu prüfen.«
»Bombardements, die viele Zivilisten töten«
Janis‘ Analyse des Schweinebuchtfiaskos unter Kennedy liest sich, auch wenn es wahrhaftig keine Parallelen zwischen Kennedy und Putin gibt, angesichts des Einmarsches in die Ukraine geradezu beklemmend aktuell. Das Bedürfnis, ein positives Gruppengefühl herzustellen, führe paradoxerweise oft dazu, schrieb der Psychologe etwa, dass Gruppen mit großer Entscheidungsgewalt »oft hartherzig sind, wenn es um Outgroups oder Feinde geht«. Es fiele ihnen dann »oft recht leicht, auf entmenschlichende Lösungen zurückzugreifen«, etwa, »Bombardements anzuordnen, die viele Zivilisten töten«.
Nun braucht es bei Wladimir Putin und seinem inneren Kreis aus Militärs und ehemaligen KGB-Agenten vermutlich nicht viel, um »entmenschlichende Lösungen« für akzeptabel zu halten – immerhin haben russische Flugzeuge auch schon in Syrien gezielt Krankenhäuser bombardiert, und Putin hat offenkundig keinerlei Skrupel, politische Gegner ermorden zu lassen. Beim Einmarsch in der Ukraine aber scheint noch etwas anderes hinzugekommen zu sein: eine Serie von katastrophalen Fehleinschätzungen, wie Janis sie für solche Situationen beschrieben, ja vorhergesagt hat.
Acht Symptome, alle vorhanden
Putin scheint schon seit einiger Zeit nur noch auf den kleinen Kreis der »Silowiki« zu hören, der höchsten Vertreter des russischen Sicherheitsapparates. Dazu gehört Verteidigungsminister Sergei Schoigu und vermutlich Generalstabschef Valery Gerasimow. Außerdem die Chefs des Inlands- und des Auslandsgeheimdienstes Alexander Bortnikow und Sergei Naryschkin sowie der Chef des Sicherheitsrats Nikolai Patruschew. Viele von ihnen vertreten schon seit Jahren auch öffentlich russische Großmachtvisionen, die denen Putins gleichen. Möglicherweise gibt es noch einige wenige weitere Eingeweihte wie den Rosneft-Chef Igor Setschin.
Viele dieser Männer, auch Setschin, sind langjährige KGB-Weggefährten Putins. Kollektiv scheinen sämtliche »Groupthink«-Symptome, die Janis schon vor 50 Jahren katalogisierte, auf sie zuzutreffen:
1. Die Illusion der Unverletzlichkeit
Der innere Kreis um Wladimir Putin scheint von völlig falschen Annahmen hinsichtlich der Schwierigkeiten eines Angriffs auf die Ukraine ausgegangen zu sein. Westliche Geheimdienste stimmen überein in der Einschätzung, dass der Kreml einen schnellen Sieg und eine schnelle Einnahme Kiews erwartete, möglicherweise sogar eine bereitwillige Kapitulation der Bevölkerung. Auch die Heftigkeit der Reaktion des Westens auf den Einmarsch scheint Putins inneren Zirkel mächtig überrascht zu haben – offenbar hatten die wiederholten, weitgehend folgenlosen Verbrechen des Regimes dort die Annahme genährt, dass man sich jetzt fast alles erlauben könne.
2. Der Glaube an die eigene moralische Rechtfertigung
Möglicherweise glaubt Wladimir Putin tatsächlich, was er in den vergangenen Wochen mehrmals in Kameras gezischt hat: dass ihm eine Art historische Mission übertragen worden ist, Russlands einstige Größe wiederherzustellen – und dass dazu die Unterwerfung der Ukraine notwendig ist. Das übrigens sollte auch dem weißrussischen Diktator Alexander Lukaschenko zu denken geben: Denn das historische Kiew-Rus des Mittelalters, das heute als eine Art mythischer Urquell der russischen Identität gehandelt wird, umfasste neben Teilen der heutigen Ukraine und westlicher Gebiete des heutigen Russlands eben auch das heutige Belarus.
3. Kollektive Rationalisierungen
Ob Wladimir Putin sich all die Geschichten, die er seinem Publikum und augenscheinlich auch sich selbst über die vermeintlich von »Nazis und Drogenabhängigen« beherrschte Ukraine wirklich selbst glaubt, ist von außen nicht zu beurteilen. Fest steht aber, dass sein innerer Kreis offenbar unbeirrt an der Überzeugung festhält, dass der Angriffskrieg gegen einen souveränen Nachbarstaat erstens gerechtfertigt und zweitens erfolgversprechend ist – aller gegenteiligen Evidenz zum Trotz. Jeder weitere Tag, den die Ukraine sich erfolgreich der russischen Aggression erwehrt, dürfte die kognitive Dissonanz und damit Putins eigene Gereiztheit weiter erhöhen. Genauso wie die Folgen der Sanktionen.
4. Stereotype über Outgroups
Für diesen Punkt aus Janis‘ »Groupthink«-Symptomliste lieferte Putin in seiner wütenden Rede diese Woche Lehrbuchbeispiele. Plötzlich gibt es in Russland »Nationalverräter«, die »hier bei uns Geld verdienen, aber dort leben«, mit »einer Villa in Miami oder an der französischen Riviera«, die »nicht ohne Gänseleberpastete, Austern und sogenannte Gender-Freiheiten leben können«. Nicht alle, aber viele von diesen Leuten – der wohlhabenden Schicht also, die Putin und sein kleptokratisches Kabal in den vergangenen 20 Jahren selbst herangezogen haben – seien eben »nicht hier, nicht mit unserem Volk, nicht mit Russland«. Dann redete ein sichtlich gereizter Putin sich erst so richtig in Rage: Diese Leute glaubten, sie gehörten »einer höheren Kaste, einer höheren Rasse« an, sie würden bei Bedarf »ihre eigene Mutter verkaufen«.
Es ist davon auszugehen, dass Putins Ausbruch über die »fünfte Kolonne des Westens« der Auftakt zu einer Säuberungswelle im eigenen Land sein wird. Die russische obere Mittelschicht, die sich in Putins gefälschter Demokratie bequem eingerichtet hat, gilt nun plötzlich kollektiv als potentieller Staatsfeind – weil sie etwas zu verlieren hat.
5. Selbstzensur
Nichts dringt derzeit nach außen von dem, was Putin so redet mit den wenigen Männern, mit denen er überhaupt noch spricht. Wer ihn sehen will, muss vorher entweder 14 Tage in Quarantäne oder, die Bilder sind mittlerweile geradezu ikonisch, am anderen Ende eines sehr langen Tisches Platz nehmen. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass dem zunehmend paranoid und stark unter Druck stehenden Autokraten schon lange niemand mehr widerspricht – vielleicht auch deshalb, weil auch die übrigen Mitglieder des inneren Kreises schon seit Jahren in der Groupthink-Sackgasse feststecken.
Der Politologe Brian Klaas, der am University College London lehrt und im Laufe der Jahre viele Autokraten und Diktatoren interviewt hat, schrieb kürzlich im »Atlantic« : »Autokraten wie Putin tappen irgendwann in das, was man die ‚Diktatorenfalle‘ nennen könnte. Die Strategien, die sie nutzen, um an der Macht zu bleiben, verursachen letztlich ihren Sturz.« Zu den Elementen dieser Falle gehört, so Klaas, dass die Autokraten »nur noch von Schmeichlern hören und schlecht beraten werden«. Genau das haben Geheimdienstanalysten Putin schon vor Beginn des Krieges attestiert, glaubt man zum Beispiel der »Washington Post« . Die Zeitung zitierte einen ungenannten US-Beamten mit den Worten: »Soweit wir sehen, hat er sich während der Covid-Pandemie isoliert und ist von Jasagern umgeben.« Glaubt man dem eingangs zitierten, sehr lesenswerten Buch der langjährigen Moskau-Korrespondentin der Financial Times, ist das schon viel länger der Fall. Das zitierte Gespräch zwischen zwei in Ungnade gefallenen Putin-Getreuen wurde 2007 heimlich aufgezeichnet.
6. Illusion von Übereinstimmung
Dass unter solchen Bedingungen keine abweichenden Meinungen und Einschätzungen mehr zu Gehör gebracht werden, versteht sich fast von selbst. Wie gefährlich Widerspruch sein kann, dürfte im inneren Kreis des Autokraten längst allen klar sein – was auch eine Szene zeigt, die kurz vor Ausbruch des Krieges weltöffentlich ausgestrahlt wurde.
7. Direkter Druck auf Personen mit abweichenden Meinungen
Wie aggressiv Putin auch nur auf kleinste Abweichungen von seinem Drehbuch reagiert, konnte man nämlich kurz vor dem Einmarsch noch einmal live im Fernsehen besichtigen: Als Sergei Naryschkin, der Chef des Auslandsgeheimdienstes, sich beim bizarren öffentlichen Abnicken der Anerkennung der »Unabhängigkeit« der von Moskautreuen kontrollierten ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk verhaspelte, kanzelte Putin ihn vor den Augen der Weltöffentlichkeit ab wie einen Schuljungen, der an der Tafel versagt. Aus heutiger Sicht ist klar, dass Putin unmittelbar im Anschluss an diesen Auftritt auch jene Kriegsrede aufzeichnete, die dann erst nach dem Einmarsch ausgestrahlt wurde. Die öffentliche Ohrfeige für den zweifellos eingeweihten Naryschkin kann also auch als grobe Warnung an alle anderen Getreuen verstanden werden: Auch kleinste Fehler, die als Risse in der geschlossenen Fassade gedeutet werden könnten, werden gnadenlos geahndet.
8. Selbsternannte »Mindguards«
Ob es in Putins Kriegszirkel noch Personen gibt, die eine von Irving Janis »Mindguards« genannte Rolle einnehmen, ist von außen unmöglich zu beurteilen. Gemeint sind damit Personen innerhalb der Gruppe, die echte oder vermeintliche Abweicher beiseitenehmen und zurechtweisen, um sie wieder auf Linie zu bringen. Vielleicht sind Putins »Silowiki« aber auch schon längst ihre eigenen Mindguards – ob aus Angst oder Überzeugung.
Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel soll schon 2014 in einem Telefonat mit US-Präsident Obama über Putin gesagt haben, der habe offenbar den Kontakt zur Realität verloren. Putin lebe »in einer anderen Welt«, zitierte die »New York Times« Merkel damals. Zu vermuten ist, dass Putin diese Welt weitgehend allein bewohnt – eventuell mit Ausnahme der übrigen Mitglieder seines Groupthink-Zirkels.
Die westliche Welt scheint dieser nun unbestreitbar gewordenen Tatsache bis zum Einmarsch in der Ukraine nie so richtig Rechnung getragen zu haben.
Gerade für die hochrangigen Silowiki wird die Lage unterdessen wohl zunehmend gefährlich: Je schlechter der Krieg läuft, je stärker die Wirklichkeit in die Parallelrealität von Putins Blase eindringt, desto wütender dürfte Putin auf seine Militärs und Geheimdienstchefs werden. Dann wird sie auch Groupthink nicht vor seinem Zorn retten. Oder es läuft umgekehrt – und die Silowiki wenden sich gegen ihren Herrn .