
Umweltdebatte Sie schaffen das, aber nicht allein

Protestaktion der Umweltaktivisten von "Extinction Rebellion" in Großbritannien
Foto: Phil Clarke Hill/ In Pictures/ Getty ImagesIch gebe mir Mühe, wirklich. Ich beziehe seit 20 Jahren ausschließlich Ökostrom. Ich wohne in einem Niedrigenergiehaus mit Erdwärmepumpe und einer Fotovoltaikanlage auf dem Dach. Ich fahre Fahrrad oder, wenn ich faul bin (also zu oft), einen Elektroroller. Dessen Akku lade ich nach Möglichkeit auf, wenn die Sonne scheint. Dann läuft bei uns auch die Waschmaschine. Wir essen wenig Fleisch, kaufen nach Möglichkeit regionale, saisonale Produkte, bewegen unser Auto äußerst selten und so weiter.
Ich weiß aber auch: Das alles bringt sehr wenig. Außer einem halbwegs guten Gefühl, das sich sofort in Luft auflöst, sobald man ein Flugzeug besteigt. Denn Fliegen ist ja, nach Kinder bekommen, die schlimmste Klimasünde von allen.
Kinder sind das Schlimmste?
In den vergangenen Jahren sind diverse Studien, Metaanalysen, Onlineselbsttests und Infografiken erschienen, die alle immer wieder das selbe zeigen: Am schlimmsten für die CO2-Bilanz des Planeten ist es angeblich, wenn man ein Kind zeugt, am zweitschlimmsten, wenn man ab und zu fliegt, am drittschlimmsten, wenn man ein Auto hat . Ökostrom einzukaufen kommt als effektive Klimaschutzmethode erst auf Platz vier.
Man spart auch eine Menge klimaschädliche Gase ein, wenn man sich vollkommen pflanzlich ernährt. Aber jedes gezeugte Kind schlägt, wenn man den Berechnungen der letzten Jahre folgt, alles.
In jeder Onlinediskussion über das Thema taucht früher oder später ein Schlauberger mit diesem Argument auf: Das Beste, was man für das Klima tun könne, sei Empfängnisverhütung. Das ist angesichts der Tatsache, dass die Bevölkerung Mitteleuropas derzeit stagniert und demnächst zu schrumpfen beginnen wird, nicht nur Unsinn. Es ist auch ein Symptom.
Einerseits für die Schlampigkeit, mit der bei diesem Thema immer noch argumentiert wird. Und andererseits für die kollektive Wahrnehmungsverzerrung, die beim Thema Klimawandel noch immer herrscht. Denn die entscheidende Frage ist ja, wie die Welt, in der diese Kinder leben werden, mit Energie versorgt wird.
Es ist egal, ob Greta fliegt
All die Artikel, Selbsttests und oberschlauen Klimazyniker im Internet gehen von der gleichen, grundfalschen Prämisse aus: Dass sich das Klimaproblem der Menschheit mit individuellen Entscheidungen lösen lässt. Das ist nachweislich Unsinn. Ich wage zu behaupten, dass noch kein grundlegendes Menschheitsproblem auf der Basis individueller Tugendhaftigkeit gelöst worden ist. Menschen wissen leider sehr oft einfach nicht, was gut für sie ist. Selbst dazu, sich im Auto anzuschnallen, musste man sie mit einem Gesetz zwingen, gegen heftigen Widerstand.
Der damalige VW-Chef Kurt Lotz begründete 1970 die Tatsache, dass sein Unternehmen so ungern Gurte in Autos einbaute, so: "Sicherheit verkauft sich schlecht." Das passt ins Bild. 1971 gab es in Westdeutschland über 21.000 Verkehrstote, fast siebenmal so viele wie 2018. Mit einem Drittel der Autos von heute und deutlich weniger Menschen.
Es ist wirklich ganz einfach: Weder freiwilliges ethisches Verhalten von börsennotierten Unternehmen noch individuelle Verhaltensänderungen einsichtiger Menschen werden uns retten. Es ist deshalb bewundernswert aber auch im Grunde irrelevant, ob Greta Thunberg nun Zug fährt oder fliegt.
Wie groß wäre das Ozonloch heute?
Wie groß glauben Sie, wäre das Ozonloch, wenn man es damals in den Achtzigern dem Konsumenten überlassen hätte, sich aus ethischen Erwägungen für Kühlschränke und Haarspray ohne Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) zu entscheiden? Wie sähen die deutschen Wälder aus, wenn Katalysatoren und unverbleites Benzin private Lifestyle-Entscheidungen gewesen wären? Glauben Sie die Sklaverei wurde weltweit geächtet, weil eines Tages alle Sklavenhalter nacheinander mit entschlossen gerecktem Kinn erklärten, jetzt sei aber Schluss mit dieser Unmenschlichkeit?
Einzelne Menschen sind, leider, sehr oft kurzsichtig, selbstsüchtig und rücksichtslos. Das hat nicht zuletzt mit gewissen kognitiven Einschränkungen zu tun, denen wir allesamt unterliegen. Wir wissen das längst. Und wir sind, das ist das Tolle, in der Lage, gemeinsam über uns selbst hinauszuwachsen.
Gesellschaftlicher Fortschritt findet kollektiv statt
Keine Sklaven, keine Prügelstrafe, kein verbleites Benzin, kein FCKW mehr, keine Vorschriften mehr darüber, wer mit wem schlafen darf, und so weiter: Lauter von demokratisch gewählten Parlamenten getroffene Entscheidungen, an die sich seitdem alle oder wenigstens fast alle halten. Gesellschaftlicher Fortschritt ist ein kollektiver, kein individueller Prozess. Ein gemeinsames Sich-Überwinden.
Die Handlungsempfehlungen sind deshalb Augenwischerei und Ablenkungsmanöver. Wir werden den Klimanotstand nur dann in den Griff bekommen, wenn wir kollektiv handeln, das heißt: politisch. Und international. China, die USA und Indien mitzunehmen ist die wichtigste Priorität. Wer außer uns Europäern sollte, könnte das anstoßen?
Es ist global betrachtet nahezu vollkommen gleichgültig, ob Sie persönlich jetzt nie wieder fliegen, nur noch vegan essen oder der Fortpflanzung entsagen.
Nur eines hilft derzeit wirklich: Wenn am kommenden Sonntag ein neues Europaparlament gewählt wird, gehen Sie zur Wahl. Informieren Sie sich vorher darüber, welche Parteien sich wirklich, nicht nur mit Phrasen, für eine gesamteuropäische, effektive Klimapolitik einsetzen. Für verbindliche, stärkere CO2-Einsparungsziele, eine europäische CO2-Steuer, massive Investitionen in erneuerbare Energien, alternative Mobilität und neue, verbindliche internationale Abkommen.
Es gibt davon mehrere. Man kann ihre Positionen zum Thema im Wahlomat wunderbar miteinander vergleichen.
Suchen Sie sich eine dieser Parteien und wählen Sie sie. Zeigen sie der Politik, was Ihnen wichtig ist. Ganz egal, wie viel reale Entscheidungsgewalt das Europaparlament tatsächlich hat - setzen Sie ein Signal.
Einen wichtigeren Beitrag zum Klimaschutz können Sie im Moment nicht leisten.