Unbekannte Erreger Neue Seuchen beunruhigen Experten
Seit Anfang März rätseln Epidemiologen und Mediziner in aller Welt über das, was ihre Kollegen aus der indischen Provinz Orissa am Golf von Bengalen alarmiert gemeldet haben: Ein bislang unbekannter und bis heute noch unidentifizierter Erreger hat innerhalb kürzester Zeit rund 3000 Menschen infiziert, und bei den Erkrankten hohes, teilweise lebensbedrohliches Fieber ausgelöst. Das Virus hat sich derart rasant verbreitet, dass indische Behörden die internationale Forschergemeinschaft um Unterstützung gebeten haben.
Was auch immer in den Slums von Kishantola, Rukotola und Banglatoli am 1. März 800 Menschen ansteckte, erreichte nur wenige Tage später die Stadt Rourkela und machte dabei nicht einmal vor isolierten Lebensräumen halt - zu den Infizierten zählen auch Insassen des staatlichen Gefängnisses. Von "epidemischen Zügen" sprach der staatliche Chefmediziner des Distrikts, Premananda Patnaik.
Die Analyse von immerhin 857 Blutproben förderte nur wenig Verwertbares zu Tage. Immerhin: Die Epidemie stand in keinerlei Verbindung zur weltumspannenden Vogelgrippe, wie die Untersuchungen belegten. Welcher Erreger aber am Werk war, bleibt ein Rätsel. Es war, heißt es im internen Infodienst der International Society for Infectious Diseases (ISID), eine "mysteriöse virale Attacke" die, so viel scheint klar, über die Luft übertragen wurde.
Mysteriöse neue Seuchen
Derartige Ausbrüche, bei denen bislang völlig unbekannte Krankheitserreger auftauchen, sind keinesfalls neu - nehmen aber seit Jahren zu. Als nahezu sicher gilt, dass die Killerviren zunächst im Tierreich auftreten und erst danach, nach entsprechenden Mutationen des Erbguts, auf den Menschen überspringen.
Die Liste der sogenannten "emerging diseases", wie Epidemiologen die neuen Seuchen auch nennen, ist beeindruckend:
- Das Hendra-Virus, das wie die Atemwegserkrankung Sars zur Paramyxo-Familie gehört, löste 1994 bei Menschen in Australien schwere Lungenentzündungen aus. Fledermäuse übertrugen den Erreger zuerst auf Pferde, von denen er auf den Menschen übersprang;
- Den Vogelgrippe-Erreger H5N1 wiesen Forscher in der chinesischen Provinz Guandong bereits 1997 bei Geflügel nach; mittlerweile infizieren Vögel auch andere Tierarten. Noch ist eine Übertragung von Mensch zu Mensch wahrscheinlich nicht aufgetreten;
- Das Virus Menangle tauchte 1998 in Australien auf und fügte seinen Opfern lebensbedrohliche Lungenentzündungen zu;
- Der SARS-Corona-Erreger, dem weltweit bisher mehr als 850 Menschen zum Opfer fielen, gilt ebenfalls als Beispiel einer neuen Seuche. Seinen Ursprung machten Epidemiologen ebenfalls in Guandong aus und vermuten den Zeitpunkt der Entstehung in das Jahr 2003.
Wie schwer sich die Ursache solcher Seuchen wissenschaftlich aufklären lässt, demonstriert eindrucksvoll das Beispiel Nipah. Der gleichnamige Erreger tauchte erstmals 1999 in Malaysia auf - und raffte in kurzer Zeit 102 Menschen dahin. Erst im vergangenen Juli gelang Wissenschaftlern am US-amerikanischen National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) ein kleiner Durchbruch, als sie den Eintrittsmechanismus der Viren in die menschliche Zelle ausmachten: Offenbar docken die mörderischen Erreger an den Rezeptor Ephrin-B2 an, der an der Oberfläche menschlicher Nervenzellen vorkommt. Auch bei Hendra scheint dieser Mechanismus zu greifen.
Doch solche Forschungserfolge bleiben meist Einzelfälle. Der eigentliche Ursprung der Killerviren bleibt meist ein Mysterium. "Nipah kam gewissermaßen aus dem Nichts", erklärt Klaus Stark, Experte für Zoonosenerkrankungen am Berliner Robert-Koch-Institut (RKI) im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Vermeiden kann man solche Ausbrüche ohnehin nicht."
Unendliches Reservoir, keine Medikamente
Vor allem die tropischen Gebiete in Asien und Afrika gelten als Wiege der neuen Seuchen. "Es gibt dort ein unerschöpfliches, bisher kaum erforschtes Erreger-Reservoir, von dem niemand jemals etwas unter dem Mikroskop gesehen hat", sagt Christian Griot, Leiter des in Mittelhäusern bei Bern ansässigen Instituts für Viruskrankheiten und Immunprophylaxe. Die hohe Mutationsrate führe zu neuen Erregern.
Zu glauben, dass lediglich Viren Auslöser der neuen Seuchen sind, wäre ein Trugschluss. Auch Bakterien, deren Existenz nie ein Mensch für möglich hielt, sind auf dem Vormarsch. Jedes Jahr etwa sterben mehr als eine Million Kinder an Pneumokokken-Infektionen, weil die neue Bakteriengeneration Streptococcus pneumoniae den meisten Medikamenten trotzt.
Der Kampf scheint inzwischen an vielen Fronten zugunsten der neuen Erreger auszugehen, wie Rudi Balling, Leiter der vom Bund betriebenen Gesellschaft für Biotechnologische Forschung, im Gespräch mit dem SPIEGEL ONLINE feststellt. "Unser Gesundheitssystem ist nicht optimal vorbereitet, es kommen nur noch sehr selten neue Wirkstoffe auf den Markt." Die aber wären nötig, um den tödlichen Erregern den Garaus zu machen. "Die Industrie hat sich in den letzten Jahren immer mehr aus der Entwicklung neuer antiinfektiver Medikamente und Impfstoffe zurückgezogen", sagt Balling. Die Erklärung sei relativ einfach: "Die Entwicklung dauert lange und ist extrem kostenintensiv."