Uralt-Metropole in "Second Life" Klick dich in die Steinzeit

Schweine grunzen, Häuser brennen, Menschen tragen Neolithikum-Look: So real sah Archäologie selten aus. Forscher haben eine der ersten Städte der Menschheit virtuell wiederauferstehen lassen. Jeder kann die 9000 Jahre alte Metropole Çatal Höyük bereisen - und in "Second Life" gleich mitexperimentieren.
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Virtuelle Steinzeit-Stadt: Çatal Höyük in "Second Life"

Foto: SPIEGEL ONLINE

Es brennt in Çatal Höyük. Dichter Rauch zieht durch die eng aneinander gedrängten Räume der steinzeitlichen Siedlung. Erst frisst das Feuer nur, was es im Hauptraum von Gebäude 77 finden kann. Dann aber schlägt es durch die Dachluke. Die glühend heißen Tonwände verwandeln das Innere des Hauses in einen Backofen. Schließlich kollabiert das Dach und lässt sämtliche Nachbarhäuser erzittern. Am Ende bleibt nur eine verkohlte Höhle, die einst weißgewaschenen Wände sind schwarz vom Ruß.

Das Feuer tobte im Morgengrauen der menschlichen Zivilisation: Çatal Höyük wurde vor etwa 9000 Jahren auf der anatolischen Hochebene erbaut, knapp 40 Kilometer südöstlich der heutigen Stadt Konya - als eine der ersten Städte der Welt. Rund ein Jahrtausend lang war sie bewohnt. Dann verließen die Menschen die Metropole. Die Häuser verfielen und gerieten in Vergessenheit.

Heute brennt es wieder in Çatal Höyük, allerdings nicht in den echten Ruinen: Archäologen und Medienwissenschaftler von der University of California in Berkeley haben die Steinzeit-Stadt in der virtuellen Welt von "Second Life" noch einmal errichtet  - unter anderem, um Teile davon prompt wieder abzufackeln. Gleich an vier Stellen lodert das Feuer von Gebäude 77. Für jede Stufe des Infernos gibt es eine eigene Version. Die Nordmauer des Hauses haben die Baumeister jeweils weggelassen, damit man die Flammen nicht durch die enge Einstiegsluke im Dach anschauen muss, sondern sie bequem in der Vollansicht bestaunen kann. Rauchfahnen steigen weithin sichtbar über dem Ausgrabungshügel auf, das Knistern der Flammen weist akustisch den Weg.

Digitales Vieh füllt die Stadt mit Leben

Ruth Trigham und ihre Studenten sind damit Cyber-Pioniere der Archäologie. 2007, als Çatal Höyük erstmals in "Second Life" seine Tore öffnete, erhielten sie für die virtuelle Rekonstruktion der Stadt den "Open Archaeology Prize" der American Schools of Oriental Research. Das besondere an Trighams Çatal Höyük ist, dass die Ruinen nicht nur als Daten vorliegen, sondern mit prallem Leben gefüllt sind. Hier blökt eine kleine Schafherde, dort grunzen halbwilde Schweine, überall hört man den Wind durch das Gebüsch rascheln. Diese Details hauchen der Rekonstruktion ein Leben ein, das anderen digitalen Archäologie-Projekten fehlt. So beeindruckt zum Beispiel die Datenbank CyArk  mit millimetergenauer 3-D-Wiedergabe der Oberflächen von vielen Weltkulturerbestätten. Und doch bleiben die Monumente am Bildschirm still und tot.

Nach Çatal Höyük kann jeder kommen. Alles, was man für einen Besuch in der virtuellen Rekonstruktion der Stadt braucht, ist ein kostenloses Benutzerkonto bei "Second Life". Im Gegensatz zur realen Steinzeit-Stadt liegt die virtuelle Siedlung nicht auf einer Hochebene, sondern auf einer Insel namens "Okapi Island", benannt nach dem "Open Knowledge and the Public Interest"-Programm, das das Grundstück in "Second Life" gekauft hat. Anders als der reine Besuch in der virtuellen Welt kosten Grund und Boden dort nämlich reales Geld: 1800 Dollar sind jährlich für die Archäologie-Insel fällig.

Das nachgebaute Çatal Höyük ist inzwischen eine Art öffentlicher Hörsaal zum Mitmachen. Jeden Mittwoch von 20 bis 21 Uhr - nach deutscher Ortszeit leider zwischen fünf und sechs Uhr am Donnerstagmorgen - hält Trigham eine Frage-und-Antwort-Stunde ab. Oder vielmehr ihr Avatar, ihr "Second Life"-Ego. Der heißt Ruth Galileo, hat eine Frisur aus langen Haar-Stacheln, grünliche Haut und trägt ein buntes Batik-Shirt. "Wir wollen hier einen Raum schaffen, in dem die Öffentlichkeit mit uns Archäologen reden kann", sagt Trigham. "Und nicht nur das - sie soll am besten auch selber forschen und interpretieren."

Experimente im virtuellen Sandkasten

In der "Sandbox", dem Sandkasten von Okapi Island, darf zum Beispiel jeder bauen, probieren und die Ergebnisse ausstellen. Gleich hinter dem Eingang stehen dafür Kisten mit Kleidung im Jungsteinzeit-Chic zum anprobieren. Design-Studenten haben den Neolithikum-Look nach tatsächlichen Funden aus der Stadt erschaffen. Auch Götterstatuen, ein steinerner Kochtopf und ein Leopardenschrein gehören zum Inventar der virtuellen Stadt.

Im Ausgrabungszelt erzählen die Archäologen des Bach-Teams (kurz für Berkeley Archaeologists at Çatalhöyük) mit Hilfe von Fotos, Videos und auf einer interaktiven Grabungsfläche von ihrer Arbeit. Das Team grub von 1997 bis 2003 unter Trighams Leitung vor Ort in der Türkei. Dabei konzentrierte man sich auf nur ein Haus, das Gebäude 3. Die Forscher bauten es nach der Untersuchung der Funde sogar nach - nicht virtuell, sondern zum Anfassen im Hier und Jetzt.

Wie fast alle Gebäude in Çatal Höyük war auch Gebäude 3 ein fenster- und türloser Kasten. An der Rekonstruktion konnten die Ausgräber testen, wie man am besten durch die Dachluke hinein- und herausklettert. Sie stellten fest, dass die Räume dank der weißen Wandfarbe erstaunlich hell waren, obwohl sie keine Fenster besaßen. Und sie experimentierten, wie die Feuerstelle gebaut werden musste, damit der Rauch möglichst gerade durch die Dachluke abziehen konnte. Auf den wissenschaftlichen Daten, die das Bach-Team gesammelt hat, basiert das Çatal Höyük in "Second Life".

Und natürlich kann sich jeder Besucher der Cyber-Rekonstruktion auch in der Stadt selber umsehen. Das erfordert allerdings geschickte Finger und einen guten Orientierungssinn. Denn den Avatar durch die Stadt zu steuern, ist gar nicht so einfach. Die Häuser von Çatal Höyük wirken wie ein großer Haufen mehr oder minder zufällig in die Landschaft gefallener Würfel. Zwischen manchen klaffen enge Lücken, die meisten aber sind Wand an Wand gebaut.

Klettertour in der Stadt ohne Straßen

Straßen gibt es nicht. Die Bewohner der Steinzeit-Stadt gelangten über die Dächer von einem Ort zum anderen. War ein Gemäuer zu alt und stürzte ein, füllten die neuen Bewohner das Loch mit Schutt und bauten einen neuen Wohnwürfel direkt auf die Reste des alten. So entstand über die Jahrhunderte der Hügel von Çatal Höyük: Die letzten Bewohner lebten auf bis zu 18 Häuserschichten. Durch dieses Würfelgewirr muss sich der Avatar kämpfen - Dach rauf, Dach runter, Leiter rauf, Leiter runter.

Die Mühe lohnt sich allerdings, denn viele der Häuser sind liebevoll mit Rekonstruktionen der tatsächlichen Einrichtungen ausgestattet. Aber auch wenn die Szenerie lebensecht wirkt, wünscht sich Trigham konstruktive Kritik von den Besuchern: "Unser Ziel ist es, diese Rekonstruktion, die ja nur unsere Vorstellung von der tatsächlichen Vergangenheit ist, für Kritik zu öffnen - und nicht zum unkritischen Spaziergang durch die Ruinen einzuladen."

Die Aufforderung zum Mitforschen unterscheidet Çatal Höyük von anderen archäologischen Rekonstruktionen in "Second Life". In Rom  kann man zwar gegen Gladiatoren kämpfen oder ein Wagenrennen fahren, in Babylon  Ochsen und Esel streicheln oder die Chinesische Mauer  entlangwandern. Doch nirgendwo in "Second Life" dient eine Stätte so explizit der Forschung wie Çatal Höyük.

Tatsächlich kommen eine Menge Nicht-Archäologen nach Okapi Island. Vor allem, wenn wieder eine besondere Veranstaltung ansteht, zu denen unter anderem auf Facebook eingeladen wird. "Wir führen unsere Besucher dann durch die Ruinen", sagt Trigham. "Oder sie können auf unseren Partys mittanzen." Ihr ist es wichtig, dass Çatal Höyük ein möglichst geselliger Ort ist. "Denn ohne Besucher kann es in den Ruinen doch sehr einsam sein."

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