USA Mysteriöse Midlife-Selbstmordwelle beunruhigt Forscher

Eine US-Studie zeigt einen besorgniserregenden Anstieg von Selbstmorden unter Menschen mittleren Alters. Diese Beobachtung ist deutschen Wissenschaftlern ein Rätsel - denn hierzulande nimmt die Zahl der Selbstmorde stetig ab.
Von Nicole Simon

Warum Tausende von Männern und Frauen ihrem Leben ein Ende gemacht haben, ist in jedem einzelnen Fall eine schmerzhafte Frage für die Hinterbliebenen. Für Wissenschaftler ist das Ergebnis einer Fünf-Jahres-Analyse aus den USA überraschend und absolut rätselhaft. Sie zeigt, dass die Selbstmordrate bei Männern im Alter zwischen 45 und 54 Jahren dort um über 20 Prozent zugenommen hat. 1999 waren es noch 3854 Selbstmord-Tote, 2004 war die Zahl auf 5078 gestiegen. Bei Frauen dieser Altersgruppe stieg die Zahl sogar um über 30 Prozent (1999: 1227 Tote, 2004: 1828 Tote). In Deutschland hingegen sinken die Selbstmordraten stetig. Was ist also in den USA passiert, das diese erschreckenden Zahlen erklärt? 

Die von der "New York Times" zitierte Studie der Todesraten zwischen 1999 und 2004 wurde von den Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta durchgeführt. Besonders merkwürdig ist, dass sich die starke Zunahme tatsächlich nur auf diese eine Altersgruppe beschränkt. Bei 15- bis 19-jährigen kann man in dem Untersuchungszeitraum gerade einmal einen Anstieg der Selbstmord-Zahl von 2 Prozent beobachten.

Was passierte zwischen 1999 und 2004, das die Selbstmordrate in Amerika so in die Höhe schnellen ließ? Für Gesundheitsexperten ist es, als suchten sie die Nadel im Heuhaufen.

Mangel an Prävention?

Das Versäumnis der Wissenschaft, dieses Problem näher zu untersuchen, führt zu Spekulationen: Ist der Grund etwa ein Mangel an Prävention? "Es gibt Unterstützung für Menschen unter 19 Jahren und Menschen über 65 Jahren, aber nicht für die Altergruppe dazwischen", sagt Eric Caine von University of Rochester Medical Center in New York der "New York Times" . "Dabei gibt es gerade dort den größten Anteil an Selbstmorden." Im Jahr 2004 gab es in der USA 32.000 Fälle von Selbstmord. 6.906 Verstorbene waren zwischen 45 und 54 Jahren alt. 2434 Menschen waren unter 21, als sie sich das Leben nahmen, und 5198 waren über 65 Jahre alt.

Zusätzlich rückte der Drogen- und Medikamenten-Missbrauch ins Blickfeld der US-amerikanischen Wissenschaftler: In der Zeit der Studie starben  erstaunlich viele Menschen an einer Überdosis. Die Analyse der Gründe für einen Selbstmord gestaltet sich jedoch schwierig: Offizielle Statistiken zeigen zwar die Methode des Selbstmords - wie etwa eine Überdosis Medikamente - sie können aber nicht beantworten, ob die Selbstmörder süchtig waren oder einmalig zu den Drogen griffen, um sich das Leben zu nehmen.

Auch Kriegsveteranen scheinen eine verletzliche Gruppe darzustellen: "Jeder fünfte Selbstmörder in der USA ist ein Kriegsveteran", sagte Ira Katz vom Department of Veteran Affairs in Washington der "New York Times". "In den letzten fünf Jahren gab es auch hier die höchsten Selbstmordraten unter Frauen und Männern mittleren Alters".

In Thailand trieb 1997 eine große wirtschaftliche Krise die Selbstmordrate in die Höhe, aber es hat im Jahre 1999 in den USA keinen einschneidenden Vorfall dieser Art gegeben, der erklären würde, wieso sich gerade in Zeitraum danach so viele Menschen das Leben genommen haben.

Mögliche Gründe für die höhere Selbstmordneigung in dieser Zeit könnten auch in den soziokulturellen Veränderungen des modernen Lebens liegen: Die Familien werden kleiner, die Menschen müssen beruflich bedingt häufiger ihren Wohnort wechseln und werden dadurch of aus Freundeskreisen und anderen sozialen Netzwerken herausgerissen.

Ist doch die Hormon-Ersatztherapie schuld?

Einige Wissenschaftler vermuten den Grund für die enorm hohen Selbstmordraten bei Frauen zwischen 45 und 54 Jahren laut der "New York Times" in dem plötzlichen Absetzen der Hormon-Ersatztherapie während der Menopause. Im Jahre 2002 wurden einige Bedenken wegen Nebenwirkungen der Hormone öffentlich, und viele Frauen brachen die Therapie ab. So glaubt auch Andrew Leon von der psychiatrischen Klinik in Cornell, dass ein Absetzen der Medikamente vielleicht  eine Rolle spielen könnte: Eventuell würden ohne die Therapie mehr Frauen Depressionen entwickeln, so der Wissenschaftler zur "New York Times".

Diese Spekulationen hält Ursula Härtel von der Ludwig-Maximilians-Universität in München für unzuverlässig. Sie beschäftigt sich mit den möglichen Auswirkungen auf die Psyche der Frauen, wenn sie die Therapie abbrechen. "Nach bisherigen Studien und meinen Erfahrungen auf dem Gebiet der Hormonforschung gibt es bis zum heutigen Tag keinen nachweislichen Zusammenhang zwischen der Einnahme beziehungsweise dem Absetzen von Hormonen in der Menopause und einer gehäuften Entwicklung von Depressionen", sagt Härtel im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.

Welche dieser Faktoren zu der rasanten Zunahme von Selbstmord-Toten in den USA geführt hat bleibt weiterhin unklar. Normalerweise entwickelt sich ein Selbstmordgedanke auch erst nach verschiedenen Schwierigkeiten wie psychischen Problemen, Drogenmissbrauch, Arbeitslosigkeit und gescheiterten Beziehungen.

In Deutschland sinken die Zahlen

Oder ist doch die Midlife-Crisis schuld? Vor einiger Zeit hat SPIEGEL ONLINE eine großangelegte Studie vorgestellt, in der Menschen aller Alterklassen in 80 Ländern zu ihrem seelischen Befinden befragt wurden. Heraus kam eine U-Kurve des Lebens. In der Mitte des Lebens sollen die Menschen demnach tatsächlich am unglücklichsten sein.

Dass das die Erklärung für einen  Selbstmord sein kann, hält Armin Schmidtke von der Universität Würzburg, Leiter des Nationalen Suizid-Präventions-Programm, für unwahrscheinlich. In Deutschland sprechen die Daten eine andere Sprache: "Für Deutschland ergibt sich eine so genannte ungarische Kurve. Das heißt, dass die Selbstmordraten mit zunehmendem Alter immer weiter ansteigen", sagt Schmidke im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. 

Spektakuläre Einzelfälle wie  der des 58-jährigen Mannes, der sich auf einem Hochsitz im Wald zu Tode hungerte, ändern nichts an der generellen Tendenz: "Nach unseren Studien sinkt die Zahl der Suizide in allen Altersklassen in dem Untersuchungszeitraum von 1998 bis 2006 und liegt deutlich unter den Zahlen der 70er Jahre." 

In Deutschland wird viel für die Prävention getan. Und genau das hält Schmidtke für den Grund, dass hierzulande die Zahl der Selbstmorde immer weiter zurückgeht: "Seit 2002 gibt es in Deutschland beispielsweise ein großes Nationales Suizidpräventions-Programm und ein Bündnis gegen Depressionen - denn die meisten Menschen, die sich das Leben nehmen sind depressiv".

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