Vererbung und Erziehung Wie Eltern ihre Kinder prägen
Am Morgen des 22. November 1963 entschied sich John F. Kennedy, für die Fahrt durch Dallas auf das kugelsichere Dach auf seinem Lincoln Continental zu verzichten. Er hatte Warnungen erhalten, doch er schlug sie in den Wind. In der Stadt jubelten Tausende Texaner ihrem Präsidenten zu. Kurz nach halb eins feuerte ein Attentäter drei Schüsse ab, und John F. Kennedy starb.
Viereinhalb Jahre später fiel auch sein Bruder Robert einem Attentat zum Opfer. Er war damals Senator und stand kurz vor der Nominierung zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten. Der Kennedy-Mythos war geboren: ein Clan, der am offenen Grab lebt, der selten im Bett stirbt.
Bis heute beobachtet die Welt die Kennedys. Sie tratscht. Spekuliert. Registriert Mordopfer, Unfalltote, Drogentote, Alkoholexzesse. Sie gruselte sich, als Michael Kennedy 1997 eine steile Skipiste hinunterraste, gegen einen Baum prallte und starb. Sie schauderte, als John F. Kennedy junior sich 1999, nach wenigen Flugstunden, eine "Piper Saratoga" kaufte und nachts übers Meer in den Tod flog.
Viele Menschen glauben, dass bei den Kennedys zwei unheilvolle Neigungen die Generationen durchziehen: die Tendenz, sich unbesiegbar zu fühlen, und der Drang zum Risiko. So gesehen wäre "Familie" etwas Mächtiges, Unausweichliches. Eine Prägeanstalt, die all ihren Angehörigen ein und dasselbe Muster aufdrückt, in immer neuen Varianten. Aber heißt, einer Familie anzugehören, tatsächlich, deren Schicksal zu tragen? Und offenbar zwanghaft so handeln zu müssen wie die Vorfahren? Wie könnten uns solche familiären Einflüsse überhaupt erreichen? Nur durch Vererbung oder auch durch Erziehung?
Die Macht der Familie
Zu John F. Kennedys Zeiten und auch noch zehn, 20 Jahre später waren sich die Forscher mehrheitlich einig: Äußerlichkeiten werden vererbt. Nasenform. Augenfarbe. Beinlänge. Dazu vielleicht noch gewisse Fähigkeiten und Talente. Entscheidend für die Formung des Charakters und der Persönlichkeit jedoch sei die Erziehungs- und Vorbildfunktion der Eltern.
Deren Verhalten - besonders in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes - lege die Grundlagen dafür, wie jemand als Erwachsener fühle, denke und handle. Was immer geschehe im Leben eines Menschen - ein großer Teil der Verantwortung wurde dem Vater und vor allem der Mutter zugeschrieben. Sie galten als "Weichensteller". Als allmächtige Riesen, die ihre Nachkommen zurechtkneten, als wären diese aus Ton.
Die unbewusste Beeinflussung
In den Sechzigerjahren war der Glaube an die große Macht der Umwelteinflüsse in der Gesellschaft fest verankert. Allerdings nahmen die Fachleute nun an, ein Teil der Beeinflussung erfolge unbewusst. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhardt Richter schrieb in seinem Klassiker "Eltern, Kind und Neurose", dass Depressionen und Zwangskrankheiten der Nachkommen in familiären Kommunikationsmustern wurzelten.
Zahlreiche Leser fand 20 Jahre später auch Alice Millers "Drama des begabten Kindes". Die These der Schweizer Psychoanalytikerin: Viele Mütter ertragen es nicht, wenn ihr Kind eifersüchtig, neidisch oder zornig ist. Die Kinder stellen sich darauf ein, unterdrücken die unerwünschten Gefühle und entwickeln ein "falsches Selbst". Andere Forscher glaubten sogar, dass ein kaltes, intellektuelles Familienklima schwere Behinderungen wie Autismus zur Folge haben könne. Für Familienclans wie die Kennedys hätte das bedeutet: Die Eltern haben ihren Kindern den Hang zum Risiko beigebracht.
Die einflussreichen Autoren jener Zeit haben verborgene Dynamiken des Familienlebens detailliert beschrieben. Bis heute nutzen Therapeuten Konzepte, die damals entwickelt wurden. Allerdings sehen die meisten das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern nicht mehr als Einbahnstraße. Inzwischen haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass Kinder längst nicht so leicht formbar sind, wie man einst glaubte. Unter normalen Bedingungen haben sie vielmehr großen Einfluss darauf, was sie prägt und was nicht.
Die Rolle der Erbanlagen
"Von der Zeugung an spielt der Mensch eine aktive Rolle für seine Entwicklung", fasst der Berliner Persönlichkeitsforscher Jens Asendorpf das Credo der modernen Entwicklungspsychologie zusammen. Wie ein Mensch sich im Laufe seines Lebens wandele, lasse sich durch einfaches Ursache-Wirkungs-Denken (etwa: "Die autoritäre Erziehung hat ihn aggressiv gemacht") nicht angemessen beschreiben. Wie jemand ist und wie er wird, so Asendorpf, sei vielmehr das Resultat komplexer Wechselwirkungen mit der Umwelt.
Dabei spielen auch die Erbanlagen eine wichtige Rolle. Sie bestimmen mit, in welche Richtung sich ein Mensch zu entfalten vermag und wie er auf Einflüsse von außen reagiert. Die Gene beeinflussen unter anderem das Temperament eines Menschen, seinen Umgang mit Stress und seine Intelligenz, und ob er eher konservativ oder Neuem gegenüber aufgeschlossen, ordentlich oder unordentlich ist.
Sie sind jedoch keineswegs - wie es der britische Zoologe und Wissenschaftsautor Matt Ridley ausdrückt - "Bulldozer, die alles niederwalzen, was ihnen im Wege steht": Ein Gen erhöht nur die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens, verglichen mit einer anderen Version dieses Gens.
Jähzorn: Warum mancher in sich die Verhaltensweise des Großvaters zu spüren glaubt
Letztlich sind unsere schätzungsweise 30.000 Gene auch ein familiärer Einfluss. Allerdings unterliegt dieser, anders als die Erziehung, nicht der elterlichen Steuerung, sondern ist dem Zufall ausgesetzt. Wenn die Keimzellen von Frau und Mann verschmelzen und ein Kind entsteht, liegt jedes Gen in allen entstehenden Körperzellen doppelt vor, von väterlicher und von mütterlicher Seite. Sich aber vorzustellen, ein Mensch sei halb Vater, halb Mutter, ist viel zu simpel gedacht.
Zum Beispiel kann innerhalb eines Gen-Paares die Erbinformation eines Elternteiles ganz unterdrückt sein oder dominieren. Es ist auch möglich, dass sich die Gene eines Paares in ihrer Wirkung wechselseitig verstärken oder abschwächen. Zusätzlich können sie mit anderswo im Erbgut gelegenen Genen zusammenwirken und deren Effekte verändern.
Es ist möglich, dass bei einem Kind genetisch beeinflusste Verhaltensweisen von früheren Vorfahren wieder auftauchen, die in nachfolgenden Generationen nicht aufgetreten sind. Und es können auch ganz neue Eigenschaften auftreten, die in keiner der beiden Herkunftsfamilien vorhanden waren.
Die Kinder, die ein Elternpaar zeugt, sind daher in ihren Anlagen höchst individuell. Wenn also jemand in sich den Jähzorn des Großvaters zu spüren glaubt, könnte er Recht haben. Andererseits hat er alle Voraussetzungen, sich anders zu entwickeln als der Großvater. "Es gibt durchaus Merkmale und Eigenschaften, die innerhalb von Familien gehäuft auftreten", schreibt dazu der Londoner Zwillingsforscher Robert Plomin. "Doch, verglichen mit der Unmenge von Unterschieden, fallen sie kaum ins Gewicht."
Fahndung auf dem DNS-Strang
Lässt sich im Zeitalter der Biotechnologie nicht womöglich herausfinden, welche genetischen Verhaltenstendenzen jemand von seinen Ahnen mitbekommen hat? Noch sind die Forscher weit davon entfernt, unser Erbmaterial wirklich zu verstehen. Sie wissen zwar, dass es Gene gibt, die das Verhalten beeinflussen, kennen aber meist weder deren Baupläne noch deren genauen Platz auf dem DNS-Strang.
Eine der wenigen Ausnahmen ist das Gen "DRD4". Die Menge an Kopien, in der dieses Gen vorkommt, könnte die Ausprägung des so genannten "novelty seeking" beeinflussen, die Neigung, Neues, Aufregendes und Riskantes dem Alltagstrott vorzuziehen. Also lieber einen Bungee-Sprung zu wagen oder auf einen Kokaintrip zu gehen, statt sich durchs Fernsehprogramm zu zappen.
Hatten die Kennedys womöglich DRD4 im Übermaß? Diese These verbreitet der US-Autor Edward Klein. Seine Annahme stützt sich allerdings nicht auf eine molekulargenetische Analyse, sondern allein auf Rückschlüsse aus dem risikoreichen Verhalten vieler Familienmitglieder.
Eine solche Ferndiagnose ist jedoch unsinnig. Aus großen Studien, zum Beispiel an getrennt aufwachsenden eineiigen Zwillingen, wissen die Fachleute, dass Persönlichkeits- wie Intelligenzunterschiede etwa zur Hälfte genetisch bedingt sind. Es muss also noch zahlreiche weitere, bis heute unbekannte Erbinformationen geben, die das "novelty seeking" mitbestimmen. Die andere Hälfte der Persönlichkeitsunterschiede lässt sich durch Umwelteinflüsse im weitesten Sinne erklären.
Kleinkind oder Jugendzeit - alles zählt
Also sind in erster Linie doch die Eltern verantwortlich? Auf diese Frage antworten viele Experten inzwischen vorsichtig. Sie halten die elterliche Erziehung und ihre Vorbildfunktion nicht mehr für den am stärksten prägenden Umweltfaktor. Sie glauben nicht mehr wie einst Sigmund Freud, dass die Persönlichkeit eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren zementiert werde - schwere Traumatisierungen ausgenommen. Jene Zeit, in der Kinder hauptsächlich mit den Eltern kommunizieren und sich in der von ihnen geprägten Umgebung aufhalten, wird heute nicht mehr und nicht weniger wichtig genommen als die mittlere Kindheit, das Jugendalter und die Erwachsenenzeit.
"Nichts spricht dafür, dass Verhaltensunterschiede durch Ereignisse in der frühen Kindheit festgelegt würden", erklärt Jens Asendorpf. Natürlich interagierten Babys und Kleinkinder intensiv mit ihren Eltern. Vater oder Mutter reagierten vielleicht positiv auf ein nach außen gewandtes Kind - und verstärkten genau dieses Verhalten. Oder sie unterdrückten es, weil sie sich von dem ständigen Geplapper nervlich strapaziert fühlen. Ganz ähnliche Vorgänge, so Asendorpf, seien auch mit Gleichaltrigen, mit Erziehern, Lehrern und später mit Freunden, Partnern und Arbeitskollegen zu beobachten.
Zahlreiche Studien, die die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen über Jahre verfolgen, bestätigen Asendorpf: Ein Wissenschaftlerteam hat kürzlich die Ergebnisse von 152 solcher Untersuchungen zusammengefasst, an denen insgesamt mehr als 35.000 Personen beteiligt waren. Ergebnis: Die Persönlichkeit ist die ganze Kindheit und Jugendzeit hindurch in Bewegung. Erst danach verfestigt sie sich allmählich. Doch selbst im höheren Erwachsenenalter sind noch Umbrüche möglich.
Pensionierung im Blick
Dass Kinder - wie viele Menschen glauben - im Laufe der Jahre ihren Eltern immer ähnlicher werden, hält Asendorpf für unwahrscheinlich. Der Glaube an die zunehmende Ähnlichkeit entsteht womöglich dadurch, dass man sich in jungen Jahren mehrere Lebensstufen von Vater und Mutter entfernt fühlt. Noch liegen Schulabschluss, Berufsfindung, Karriere und Familiengründung vor einem. Später jedoch ändert sich die Wahrnehmung. Das Leben wird beständiger, und von den Eltern scheint einen schließlich nur noch eine klar erkennbare Lebensstufe zu trennen: die Pensionierung. So entwickelt man vielleicht einen genaueren Blick für Übereinstimmungen, die schon vorher vorhanden waren.
Die Experten haben noch eine zweite, scheinbar auf der Hand liegende Regel auf den Kopf gestellt: Die Ähnlichkeit zwischen erwachsenen Geschwistern ist meist nicht Folge des gemeinsamen Aufwachsens, sondern vor allem genetisch bedingt. Die Erkenntnis stammt unter anderem aus Studien mit Adoptivgeschwistern. Entgegen der Erwartung, werden sie sich im Laufe der gemeinsam in einer Familie verbrachten Jahre in den meisten Merkmalen nicht ähnlicher.
Eine Ausnahme ist der Sinn für Humor. Adoptierte Kinder und die mit ihnen aufwachsenden leiblichen Kinder entwickeln oft ein sehr ähnliches Verständnis davon, was witzig ist. Bei Essensvorlieben, sozialen und politischen Haltungen sowie der Neigung zu körperlicher Aggressivität lässt sich ebenfalls ein deutlicher Einfluss der Familie nachweisen.
Auch die Entwicklung der Intelligenz wird stark vom Elternhaus beeinflusst. Wird ein Kleinkind aus einer bildungsfernen Familie in eine bildungsinteressierte Familie adoptiert, steigt sein IQ voraussichtlich. Der Einfluss der Familie auf die kognitiven Fähigkeiten nimmt allerdings mit zunehmendem Alter der Kinder ab.
Lesen Sie im dritten Teil: Warum Geschwister in einer Familie verschiedene Leben führen und weshalb Eltern ihren Kindern eigentlich nur verschiedene Angebote machen können
Dass das Elternhaus - von den Ausnahmen abgesehen - folglich nicht wichtig für das Fühlen und Handeln von Menschen sei, folgert daraus nicht. Aber es macht Geschwister nicht ähnlicher, als sie aus genetischen Gründen ohnehin schon sind. Denn es prägt jedes Kind auf ganz eigene Weise.
Diese Erkenntnis hat den Fachleuten vor einigen Jahren die Augen geöffnet für die Bedeutung eines Phänomens, das Schriftsteller wie John Steinbeck ("Jenseits von Eden") oder Thomas Mann ("Buddenbrooks") in ihren Werken behandeln: Geschwister führen innerhalb der Familie sehr verschiedene Leben.
Eine Ursache dafür ist, dass Eltern ihre Kinder unterschiedlich behandeln. Selbst wenn sie es wollten, könnten sie gar nicht anders, da Kinder von Geburt an verschieden seien, erklärt der Jenaer Zwillingsforscher Rainer Riemann: "Erziehung bedeutet schließlich nicht, dass ich mich hinsetze und ein Konzept mache und es dann durchziehe. Erziehung ist immer auch ein Reagieren auf die Eigenart der Kinder."
So wächst zwischen jedem Elternteil und jedem Kind eine einzigartige, nicht vorhersagbare Beziehung. Ein Vater spielt vielleicht am liebsten mit seiner fröhlichen, pflegeleichten Tochter. Einen anderen fordern gerade die Eigenheiten eines von seinen Anlagen her verletzlichen, wenig anpassungsfähigen Sohnes zu besonderer Fürsorge heraus.
Familie: Wer prägt hier eigentlich wen?
Bei der Erziehung stoßen Eltern oft an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten - und fragen sich dann, wie auch Psychologen, die das Miteinander in Familien analysieren: Wer prägt hier eigentlich wen? Aus der Psychologie simpler Ursache-Wirkungs-Beziehungen ("Mangelndes Einfühlungsvermögen der Eltern äußert sich bei den Kindern später in sozial inkompetentem Verhalten und Angst vor Nähe") ist also eine Wissenschaft der Wechselbeziehungen zwischen Menschen geworden.
Das neue Modell ist sehr viel schwerer zu durchschauen als das traditionelle Deutungsmuster. Doch es hat den Vorteil, dass es die Menschen nicht auf einmal entwickelte Lebensstrategien festlegt, sondern ihnen prinzipiell zugesteht, sich aus noch so komplizierten Verstrickungen lösen zu können.
Bekommt eine autoritäre Mutter ein schwieriges Kind, schreibt Asendorpf, "mögen sich beide in einem spiralförmigen Aufschaukelungsprozess immer mehr zu einem autoritär-aggressiven Paar entwickeln". Ein schwieriges Kind mit einer toleranten Mutter werde sich hingegen eher nicht aggressiv entwickeln, und eine autoritäre Mutter werde ein "einfaches" Kind nicht unbedingt aggressiv machen.
Ähnlich offen sind die Auswirkungen anderer Umwelteinflüsse auf Kinder. "Auch eine objektiv gleiche Umwelt wird von verschiedenen Kindern unterschiedlich verarbeitet", sagt Jens Asendorpf. Wie Jungen und Mädchen die Gegebenheiten in ihrer Familie wahrnehmen, hänge von ihrem Alter ab, der genetischen Ausstattung und der zuvor entwickelten Persönlichkeit.
Untersuchungen zu extremen Ereignissen wie dem Tod der Mutter oder langer Arbeitslosigkeit haben gezeigt: Was den einen belastet, kann den anderen stärken. Experten wie Robert Plomin nehmen an, "dass die Wahrnehmung von Ereignissen für die Entwicklung der Kinder möglicherweise wichtiger ist als das wirkliche Ereignis".
Wie Kinder selbst entscheiden
Psychologen kennen ein weiteres Phänomen, das Menschen unter ähnlichen Grundbedingungen sich unterschiedlich entwickeln lässt - oft den gezielten Anstrengungen der Eltern zum Trotz: Kinder wie Erwachsene wählen sich ihre Umwelt so weit wie möglich selbst aus. Sie gestalten sie dann ihrer Eigenart entsprechend. Folglich haben sie erheblichen Einfluss darauf, was sie formt und was nicht.
Ein Mädchen etwa interessiert sich schon als Dreijährige für die Briefmarkensammlung des Vaters. Sie lernt den sorgfältigen Umgang mit den empfindlichen Sammelobjekten, hat Freude am Zusammentragen und Ordnen von Dingen. Die andere fragt ihren Vater nach den Ländern, aus denen die Marken stammen. Später reist sie dorthin - und genießt es, wenn ihr von Zeit zu Zeit Erinnerungen an seine alten Geschichten in den Sinn kommen.
In Lebensberichten berühmter Künstler finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass ihnen geradezu das Herz aufging, hatten sie ihr Lebensthema gefunden - wie etwa bei der Musikerin Anne-Sophie Mutter, die schon im Sandkastenalter am liebsten Geige spielte. "Viele dieser Menschen suchten intuitiv und aktiv die Situationen auf, in denen sie ihre hervorragenden Anlagen auch entfalten konnten", schreibt der Konstanzer Psychologe Christoph Eichhorn.
Das heißt im Umkehrschluss nicht, Eltern müssten nur offen genug sein - und schon wüchsen ihre Kinder zu Klaviervirtuosen oder begnadeten Malern heran. "Was der Einzelne als seine schicksalhafte Berufung empfindet", hat der Stuttgarter Heilpädagoge Henning Köhler beobachtet, "braucht nicht welterschütternd zu sein."
Eltern, macht Angebote!
Eine weitere wichtige Schlussfolgerung, die Fachleute aus ihren Forschungen ziehen: Offenheit darf nicht heißen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Erlebt etwa ein sehr schüchternes Kind eine Reihe von Enttäuschungen, wird es sich wahrscheinlich zurückziehen. Einsamkeit kann zwar einen starken und einfühlsamen Charakter hervorbringen - aber auch fürs Leben traurig machen.
Eltern, so Jens Asendorpf, müssen akzeptieren, dass sie ihr Kind nicht auf direktem Wege ("Na, komm schon, spiel doch einfach mit") ändern können. Ihnen bleibt nur, zu versuchen, die Umwelt so weit wie möglich an das Kind anzupassen, ihm Angebote zu machen. Etwa immer wieder andere Familien mit Kindern nach Hause einzuladen, um dem eigenen Kind zu ermöglichen, seine Zurückhaltung aufzugeben.
Aus dieser Sicht sind Eltern keine mächtigen Former ihrer Töchter und Söhne, sondern allenfalls Gestalter der kindlichen Umgebung. Sie bieten dem Kind etwas an. Erstens sich selbst: die Art zu sprechen, Gefühle zu zeigen oder zu verbergen, Schwierigkeiten anzugehen, Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu leben, Werte einzufordern und vorzuleben. Zweitens verschaffen sie dem Kind Zugang zu ganz bestimmten Umwelten: zu Mitmenschen, zur Natur, Spielzeugen, Kindergärten, Schulen, Stadtvierteln.
Das Kind wählt aus, wovon es sich beeinflussen lässt und was an ihm abprallt. Wird es älter, kann es sich unter Umständen weit von der von seiner Familie vorgegebenen Welt entfernen. Ein Familienmythos, wie es ihn angeblich bei den Kennedys geben soll ("Wir sind unbesiegbar"), ist allenfalls ein Einfluss unter vielen. Und wenn er für einzelne Familienmitglieder auch lebensbestimmend sein mag: Die vielen Männer und Frauen der weit verzweigten Familie Kennedy, die nicht ständig Kopf und Kragen riskieren, sind der beste Beweis gegen ein als unentrinnbar erscheinendes Familienerbe.