Verschollene Freibeuter Das Geheimnis der toten Piraten
Wie lehrte es Indiana Jones in "Der letzte Kreuzzug" seinen Studenten? "Archäologie ist die Suche nach Fakten. Nicht nach der Wahrheit." Wer an der Wahrheit interessiert sei, solle einen Philosophiekurs belegen, sagte er seinen Zuhörern. Sie sollten "diese Geschichten von verborgenen Städten" vergessen: "Wir folgen keinen alten Karten, entdecken keine vermissten Schätze - und noch nie hat ein X irgendwann irgendwo einen bedeutenden Punkt markiert."
Doch wenn kein X ihre Schätze markiert - wie erkennt dann ein Archäologe einen Piraten?
Am Holzbein? An der Augenklappe? Am Haufen leerer Rumflaschen?
Oder vielleicht am Skelett des Papageien in unmittelbarer Nähe seiner Schulter?
"Keiner dieser Hinweise wurde je bei einem Piraten gefunden", sagt Russell Skowronek von der kalifornischen Santa Clara University. Der Archäologe geht der Frage nach, warum vom ganzen Goldenen Zeitalter der Piraterie von 1650 bis 1725 so gut wie keine Artefakte erhalten sind.
Spätestens seit der Filmtrilogie "Fluch der Karibik" haben viele bei der Erwähnung des Wortes Pirat eine grell-elegante Erscheinung à la Johnny Depp als Jack Sparrow vor Augen. Doch weit gefehlt. In den tatsächlichen archäologischen Hinterlassenschaften kommen die Piraten nicht so auffällig daher. Keine schwarze Flagge weht an den Masten ihrer Schiffswracks.
Vollständig von Korallen umwachsen
"Archäologisch betrachtet sind Piraten unsichtbar", sagt Skowronek im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Weltweit fanden die Unterwasserarchäologen bislang nur vier Schiffe, die nachweislich von Piraten gesegelt wurden: die "Speaker" von John Bowen, Black Sam Bellamys "Whydah", William Billy One-Hand Condents "Fiery Dragon" und die "Queen Anne's Revenge" des berüchtigten Captain Blackbeard.
Von der "Speaker" ist nicht mehr viel übrig. Als das Team des französischen Historikers Patrick Lizé 1980 vor der Küste von Mauritius nach den Resten tauchte, fanden sie lediglich einige nautische Instrumente, Perlen, Goldbarren, Tonpfeifen, Kanonen und Munition - verstreut über 5000 Quadratmeter Korallenriff, viele der Artefakte vollständig von Korallen umwachsen.
Daran, dass es sich um die Überreste der 1702 gesunkenen "Speaker" handelte, bestand kein Zweifel. Denn es gab zeitgenössische Berichte über den ungefähren Ort ihres Verbleibs - und weit und breit kein anderes Schiffswrack aus jenen Jahren. Ein Glücksfall für die Archäologen, denn "nichts an der Fundstelle hätte uns sonst verraten, dass es sich um die Überreste eine Piratenschiffs handelte", sagt Lizé.
Noch eindeutiger präsentierte sich der Fall der "Whydah", die 1717 vor Cape Cod im US-Bundesstaat Massachusetts sank. Die Schatztaucher um Barry Clifford von der Bergungsfirma Maritime Explorations holten 1983 eine schwere Glocke an die Wasseroberfläche - und auf der prangte der Namenszug des Schiffes.
Hätte man jedoch nicht gewusst, dass die "Whydah" unter dem Kommando von Black Sam Bellamy stand, wäre niemand auf die Idee gekommen, in ihr ein Piratenschiff zu vermuten. Im Gegenteil. Hartnäckig hält sich das Gerücht, Piratenschiffe seien demokratisch organisierte Rechtszonen gewesen, in denen der Captain lediglich als "Erster unter Gleichen" seine Mannschaft solange anführte, bis diese beschloss, ihn wieder abzusetzen.
Die Verteilung der Funde von der "Whydah" aber erzählt eine andere Geschichte. Alle Manschetten- oder Mantelknöpfe sowie Gürtelschnallen aus wertvollem Silber lagen dort, wo sich einst das Heck befand - also die Quartiere des Captains und seiner Offiziere. In der Region der Schiffsmitte dagegen, wo die Mannschaft hauste, waren alle Accessoires an der Kleidung aus billigem Blech oder Zinn.
Feinstes Porzellan und mysteriöser Arztkoffer
Im Jahr 2000 startete Clifford erneut eine Expedition, diesmal auf der Suche nach der "Adventure Galley", dem 1698 im Hafen der Île Sainte-Marie vor Madagaskar mutwillig versenkten Flaggschiff des legendären Captain Kidd.
Mit im Team war der Historiker und Unterwasserarchäologe John De Bry. Als Clifford bereits öffentlich die Entdeckung von Kidds Schiff feierte, bremste De Bry ihn aus. Was da am Grund des Hafens liege, sei nicht die Adventure Galley. Dafür aber ein viel spektakulärerer Fund: die 1721 gesunkene "Fiery Dragon" von Billy One-Hand Condent.
Denn obwohl die Geschichte sich lieber an Kidd erinnert, der tatsächlich nur ein einziges Schiff kaperte, war Condent der bei weitem erfolgreichere Pirat. Allein das Pilgerschiff, das er 1720 in der Nähe von Bombay unter seine Kontrolle brachte, wird heute auf einen Wert von 375 Millionen US Dollar geschätzt.
De Bry war sich sicher. Historische Überlieferungen bezeugen, dass die "Fiery Dragon" ebenfalls in jenem Hafenbecken unterging. Der Rahmen des gefundenen Wracks glich eher der holländischen Bauweise der "Fiery Dragon" als der englischen der "Adventure Galley". Und auch die Ladung datierte in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts zurück - als Kidds Schiff schon längst auf dem Hafengrund rottete. Wertgegenstände wären auf der "Adventure Galley" gar nicht zu erwarten gewesen. Denn Kidd ließ den alten, wurmzerfressenen Kahn vollständig räumen, bevor er ihn versenkte.
Was Cliffords Taucher aber an die Oberfläche holten, zeugte von enormem Reichtum: feinstes chinesisches Porzellan, arabisches Geschirr, Kaurischnecken, Muskatnüsse und Aprikosenkerne. So verlockend es auch ist, darin die Ladung der "Fiery Dragon" erkennen zu wollen, einen endgültigen Beweis bleibt der Meeresgrund den Archäologen schuldig. "Und was unterschied die Ladung eines Piratenschiffes letztendlich von derjenigen der Handelsschiffe, die sie ausraubten?", fragt Skowronek.
Das letzte und wohl berühmteste in der Reihe der bekannten Piratenschiffe ist Blackbeards "Queen Anne's Revenge". Sie lief 1718 im Beaufort Inlet vor North Carolina auf eine Sandbank. Seit 1996 ist ihre genaue Lage bekannt.
Da Blackbeard vor dem Sinken des Schiffes noch genügend Zeit blieb, sämtliche Wertgegenstände von Bord bringen zu lassen, ist es für Schatzsucher allerdings kein attraktives Ziel. Taucher bargen immerhin mehrere Kanonen mit zugehörigen Kugeln, Keramik, Zinnteller, zwei ungeöffnete Weinflaschen, Tonpfeifen und eine größere Menge Eisenringe, die einst Holzfässer zusammengehalten hatten.
Die wohl interessantesten Funde sind ein Apothekergewicht aus Messing, der Hals einer Medizinflasche mit Korken sowie eine französische Harnröhrenspritze. Solche dienten früher dazu, bei Geschlechtskrankheiten Quecksilber zu injizieren. Handelt es sich hierbei etwa um die Reste von Blackbeards berühmtem Arztkoffer?
Über den rätseln die Historiker schon lange. Denn als der Pirat kurz vor dem Untergang seines Flaggschiffs den Hafen von Charleston belagerte, nahm er einige Geiseln. Seine Lösegeldforderung war nichts als ein gut gefüllter Arztkoffer. Allerdings verfügte wohl jedes Schiff über einen solchen Erste-Hilfe-Kasten, so dass auch diese Funde kein endgültiger Beleg für die tatsächliche Anwesenheit Blackbeards an Bord sind.
Warum nur sind die Piraten in der archäologischen Überlieferung quasi unsichtbar? Warum sind ihre Schiffe kaum von den ehrbaren Handelsschiffen jener Zeit unterscheidbar? Die Antwort ist ganz einfach: "Ein leicht erkennbarer Pirat wäre ein toter Pirat gewesen," sagt Skowronek.
Schließlich war auf seinen Kopf ein hoher Preis ausgesetzt.