Von Ruhe bis Hysterie So geht die Welt mit Katastrophen um

Evakuierung am Atommeiler Fukushima
Foto: KIM KYUNG-HOON/ REUTERSBrennende Industrieanlagen, alles niederwälzende Wassermassen und Menschen, die auf Hausdächern Zuflucht suchen. Japan ist von einem der schwersten seiner Geschichte heimgesucht worden. Ein gewaltiger Tsunami hat das Desaster weiter verschärft. Noch weiß niemand, wie viele Todesopfer zu beklagen sind. Die materiellen Schäden gehen in die Milliarden. Dazu kommt die Atomgefahr nach den Problemen im Kraftwerk Fukushima.
Zumindest auf die seismischen Gefahren war das Land bis zu einem gewissen Grad vorbereitet. "Japan ist die Erdbeben-Nation schlechthin", sagt Katastrophenforscher Gerrit Schenk im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Das Land sei kulturell und technisch im Prinzip gut gegen diese Art von Naturgewalt gewappnet. "Es gibt dort richtige Katastrophentrainings", sagt Schenk. Einmal im Jahr gehen die Menschen zum Beispiel zu Fuß von der Arbeit nach Hause, als Übung für den Fall, dass verkehrstechnisch nichts mehr geht.
Gerrit Schenk leitet die Arbeitsgruppe "Cultures of Disaster" des Exzellenzclusters "Asia and Europe in a Global Context" an der Universität Heidelberg. Die Forscher untersuchen, wie unterschiedliche Kulturen mit umgehen, wie sie sich auf mögliche Unglücke vorbereiten und sie verarbeiten. Solche Extremereignisse werfen ein besonderes Schlaglicht auf die betroffene Gesellschaft und vor allem auf ihr Naturverhältnis, so Schenk. "Menschliche Kulturen beruhen immer auf einem Verhältnis zu natürlichen Strukturen."
Die Umwelt prägt das soziokulturelle Gefüge und seine Entwicklung - seit Menschengedenken.
- Der jahrhundertelange Kampf gegen die Nordsee hat zum Beispiel den Niederländern ein ganz eigenes Naturverhältnis vermittelt. Man trotzt den Elementen, zähe Beharrlichkeit gilt als Volkstugend. "Luctor et emergo", kämpfen und wiederauftauchen, lautet der Wappenspruch der besonders oft von Sturmfluten betroffenen Provinz Zeeland.
- In den USA vertrauen die Menschen vor allem auf sich selbst. Als der Hurrikan " " 2005 New Orleans verwüstete, weigerten sich viele Bürger, ihre Häuser zu verlassen. Für die Forscher ein Hinweis darauf, wie stark individualisiert die US-Gesellschaft ist.
- Im stramm sozialistisch regierten Inselstaat Kuba dagegen werden bei drohender Tropensturmgefahr geradezu mustergültige Evakuierungen durchgeführt.

Brand im AKW Fukushima: "Eine große Explosion"
Das menschliche Handeln und der Umgang mit Risiken bestimmen den Verlauf einer Katastrophe ganz entscheidend mit. In einem menschenleeren Gebiet löst eine Flut keine Katastrophe aus. "Die kulturellen Siedlungsmuster sind also entscheidend", sagt Forscher Schenk.
Und natürlich die wirtschaftlichen Verhältnisse. Denn die Armen trifft es fast immer am schwersten. Im Spätsommer 2010 trat in der indischen Metropole Delhi der Fluss Yamuna über seine Ufer. In den Überflutungsgebieten lebten die marginalisierten Bevölkerungsgruppen der Stadt - Wanderarbeiter, Bettler, Unberührbare. Man hatte sie aus anderen Stadtteilen vertrieben, um dort die Vision einer modernen Megacity zu verwirklichen. Nun stand diesen Menschen plötzlich buchstäblich das Wasser bis zum Hals. Fehlerhafte Stadtplanung und das indische Kastensystem hatten bereits Jahre vorher die Basis für diese Misere gelegt.
Genau solche kulturellen Zusammenhänge nehmen Schenk und seine Kollegen akribisch unter die Lupe. "Wir versuchen, Naturkatastrophen nicht als Ereignis zu begreifen, sondern als Prozess. Es reicht nicht, nur in mehr Stahlbeton zu investieren. Wir müssen die gesellschaftlichen Zusammenhänge analysieren, und letztlich ist das Ziel, mehr Menschenleben zu retten."
"Vielleicht müssen wir einfach mit der Katastrophe leben"
Trotzdem: Auch die beste Vorsorge kann nicht alles verhindern. Das zeigt auch die aktuelle Lage in Japan, sagt Gerrit Schenk: "Vielleicht müssen wir einfach mit der Katastrophe leben." Interessant sei allerdings auch der kulturelle Umgang mit den Bedrohungen sowie ihre Wahrnehmung. Jedes Jahr gibt es in Deutschland Tausende Verkehrsopfer, aber normalerweise nennt niemand das eine Katastrophe, sagt Schenk. Ein Hochwasser dagegen schon.
Und nach jedem Extremereignis läuft das sogenannte "Blame Game" ab. Man sucht nach Schuldigen. Schenk: "Das scheint kulturübergreifend zu sein." In Europa wie auch in Asien oder anderswo. Früher sah man Gott als obersten Katastrophenauslöser. Ein Desaster galt meist als Bestrafung für sündiges Treiben. So erließ der Senat der Stadt Florenz 1542 nach einem Erdbeben besonders strenge Regeln gegen Sodomie und Blasphemie.
Spuren solchen Denkens gibt es auch in unserer modernen westlichen Gesellschaft noch, erklärt Gerrit Schenk. Man denke zum Beispiel an die Bezeichnung "Klimasünder". Vor allem in den Debatten über Hochwasser an Flüssen taucht immer wieder eine "säkularisierte Variante" des mittelalterlichen Weltbildes auf, so der Kulturforscher. "Heute schlägt Mutter Natur zurück, weil wir sie schlecht behandelt haben." Flächenversiegelung, Entwaldung, Flussbegradigung. Aber religiös sieht das niemand mehr.
In Japan, glaubt Gerrit Schenk, dürfte die aktuelle Katastrophe wenig Anlass für "Blame Games" geben. "Was sollen sie noch machen, um sich besser vorzubereiten?" Beim Erdbeben 1995 in Kobe war das anders. Pfusch am Bau - begünstigt durch Korruption - hatte damals viele Häuser zum Einstürzen gebracht. Was freilich trotzdem für Debatten sorgen könnte, sind die dramatischen Ereignisse im Kernkraftwerk Fukushima. Hier wird die Betreiberfirma Tepco kritische Fragen beantworten müssen. In Deutschland ist die Atomdebatte in vollem Gange, Kanzlerin Angela Merkel hat verkündet, die sieben ältesten Meiler zumindest vorübergehend vom Netz zu nehmen.
Forscher Schenk sagt: "Bei Naturkatastrophen findet fast immer eine Politisierung des Ereignisses statt." Man denke nur an Gerhard Schröders Auftritte während der Elbe-Flut im Wahlkampfjahr 2002. Im westindischen Bundesstaat Gujarat bemühten sich 2001 nach einem verheerenden Erdbeben verschiedene religiöse Stiftungen, sowohl hinduistische als auch muslimische, um Wiederaufbauprojekte - offensichtlich in der Hoffnung, ihren Einfluss zu erweitern. Genutzt hat es kaum. Schenk folgert deswegen: "Die politische Instrumentalisierung scheint eine relativ geringe Halbwertszeit zu haben. Die Leute sind ja nicht dumm."