Wahrnehmung Wie Bilder den Verstand täuschen
Als sie die Bilder sahen, verstummte ihr Protest. Eben noch hatten aufgebrachte Amerikaner ihrem Landsmann Paul Root Wolpe heftige Vorwürfe gemacht. Sie waren empört, dass sich der Bioethiker dafür einsetzte, Terri Schiavo sterben zu lassen jene Frau, die seit 15 Jahren im Koma lag. Doch als Wolpe ihnen Bilder zeigte, die ein Computertomograf (CT) von Schiavos Hirn angefertigt hatte, legte sich die Wut seiner Kritiker.
Neben einem CT-Scan von einem gesunden Gehirn, den Wolpe zugleich präsentierte, sah Schiavos Denkorgan furchtbar aus. Allenfalls ein Drittel ihrer grauen Masse schien noch zu leben. "Als die Leute das sahen, sagten sie: ,Vielleicht ist Terri wirklich nicht mehr da", erinnert sich Wolpe, der an der University of Pennsylvania lehrt.
Die Macht, die von Bildern ausgeht: Sie zeigt sich besonders in der Medizin, deren scheinbar konkrete Aufnahmen aus dem Körperinneren eine Überzeugungskraft besitzen, die andere Erklärungen verblassen lässt. Daher bleibt fraglich, ob Wolpes Kritiker die abgebildete Wirklichkeit tatsächlich verstanden hatten: War ihnen bewusst, dass es sich um sichtbar gemachte, rechnerische Abstraktionen handelte, um Kontrastunterschiede im Pfad von Röntgenstrahlen rückübersetzt in die konkrete Form eines Gehirns? Die damit verbundenen Zweifel am Objekt ihrer Betrachtung ließen Wolpes Kritiker jedenfalls nicht erkennen.
"Es ist ein Grundproblem der Menschen: Wir glauben, was wir sehen", sagt der Psychologe Frank Keil von der amerikanischen Yale University. "Leider. Denn wir sehen längst nicht so gut, wie wir glauben." Die Sicherheit, durch Bilder informiert zu sein, sei ein trügerisches Gefühl, wie Keil in Experimenten belegt hat und wie auch der Kommunikationswissenschaftler Thomas Knieper von der Universität München weiß: "Wenn Leute zum Beispiel einen Fernsehbericht betrachten, bei dem die Aussagen von Bild und Text einander widersprechen, denken sie, die Bilder seien wahr und die Texte falsch." Der Grund dafür lautet: Das Auge ist der wichtigste Sinn des Menschen. Ihm vertraut er mehr als sämtlichen anderen Wahrnehmungen.
Auch im Alltag fasst der Mensch Bilder als gesicherte Wirklichkeit auf, während er sich über andere Sinneseindrücke schon mal bei Mitmenschen vergewissern muss: Hat sein Gegenüber auch das komische Geräusch gehört? Findet die Begleitung beim Abendessen ebenfalls, dass der Weißwein korkt? Gesehenes hingegen zieht der Mensch so gut wie nie in Zweifel.
"Wir sind Augentiere", erklärt Ernst Pöppel, Professor für Medizinische Psychologie an der Universität München: Seit Urzeiten verlassen wir uns auf den Sehsinn, der uns den Säbelzahntiger im Gebüsch identifizieren ließ, nachdem dort nur ein unbestimmtes Ästeknacken zu hören war und lange bevor wir das Tier hätten riechen können. Diese Vormacht des Sehsinns drückt sich bis heute darin aus, dass die Hälfte des menschlichen Hirns für die Verarbeitung visueller Reize zuständig ist. Und sie drückt sich im nahezu blinden Vertrauen aus, das der Homo sapiens seiner Sehfähigkeit entgegenbringt.
Dabei ist, was vom Auge ins Gehirn gelangt, immer nur ein Konstrukt der Wirklichkeit: eingeschränkt durch persönliche Erfahrungen und durch erlerntes Vorwissen. Das Auge vervollständigt in wirrer Umgebung bekannte Strukturen, ergänzt ein paar Fetzen Tigerfells im Gebüsch zur ganzen Raubkatze, den rötlichen Schein im Straßennebel zum Auto des Vordermanns und es ordnet und interpretiert dabei die Realität, wie sich zum Beispiel am Kanisza-Dreieck demonstrieren lässt. Zudem beeinflussen Gefühle, was wir sehen, sagt Petra Stoerig vom Institut für experimentelle Psychologie der Universität Düsseldorf: "Ein Mensch, der gerade traurig ist, wird vor allem Dinge wahrnehmen, die zu diesem Gemütszustand passen. Einen Leichenwagen eher als einen Hochzeitszug."
So operieren Sehsinn und Gehirn mit informellen wie emotionalen Vorurteilen, aus denen sie sich die Umgebung zusammenreimen. Dass sie dabei subjektiv Unbedeutendes ausblenden müssen, haben die US-Psychologen Daniel Simons und Daniel Levin schon vor Jahren in einem verblüffenden Experiment nachgewiesen: Sie schickten einen Forscher mit einem Stadtplan in der Hand auf die Straße. Er sollte Passanten nach dem Weg fragen.
Während die über dem Stadtplan brüteten, liefen zwei Handwerker mit einer Tür zwischen dem Forscher und den arglosen Versuchspersonen hindurch. Heimlich wechselte dabei ein Handwerker mit dem Forscher den Platz. Obwohl der Türträger völlig anders aussah als der Forscher und auch andere Kleidung trug, bemerkte jeder zweite Passant das nicht und erklärte den Weg, als ob nichts geschehen sei. Ein Phänomen, das der Psychologe Heiner Deubel von der Universität München "Schauen ohne zu sehen" nennt. Der Gefragte sieht sein Gegenüber zwar an, nimmt es aber nicht wahr.
Wie trügerisch also die Sicherheit ist, in der ein Bilder betrachtender Mensch sich wiegt, hat der Yale-Psychologe Frank Keil vor wenigen Jahren in einem Experiment bewiesen. Er ließ Elitestudenten einschätzen, wie gut sie das Prinzip verstehen, das zum Beispiel einem Hubschrauber zugrunde liegt, einem Reißverschluss oder einer Klospülung. Dann zeigte er einer zweiten Gruppe junger Frauen und Männer technische Zeichnungen dieser Gegenstände und fragte sie dasselbe.
Die zweite Gruppe zeigte sich viel sicherer. Als es jedoch ans Erklären ging, versagten die Elitestudenten und kamen ins Stottern. Alle hatten sich furchtbar überschätzt. Dass dies für die jungen Männer mehr galt als für die Frauen, sei nur nebenbei erwähnt. Gemeinsam war ihnen, dass der Blick auf die Grafik eine Illusion erzeugt hatte: "Wenn wir etwas sehen, gibt uns das ein Gefühl von Einsicht, die wir in Wirklichkeit nicht besitzen", sagt Frank Keil. Dasselbe bestätigt der Kommunikationswissenschaftler Knieper für historisches Wissen: "Wenn man Leute fragt, wie gut sie sich an den Krieg erinnern, wächst die Selbsteinschätzung, sobald dazu Bilder gezeigt werden", sagt er. "Dabei ist es egal, wie gut das eigene Wissen wirklich ist."
Galoppierende Pferde und künstliche Farben: Wie Bilder dem Betrachter die Augen öffnen - oder ihn auf gefährliche Irrwege führen können
Besonders stark ist dieser Einfluss bei Aufnahmen, wie sie im Fall Terri Schiavo die Kritiker verstummen ließen. Zwar mögen die Aufnahmen tatsächlich recht gut Aufschluss über den Zustand der Frau im Koma gegeben haben. Doch zugleich gaukeln die Bilder aus den medizinischen Hightechgeräten CT, PET oder MRT, besonders wenn sie bunt sind, einen tiefen Einblick in etwas vor, das wir sonst nie zu sehen bekommen und ohnehin nur schwerlich begreifen.
Die Zusammenhänge von Nervenzellen und Synapsen vermag der Normalbürger kaum zu durchdringen. Und zugleich verstehen die meisten Menschen nicht, dass es sich bei den Bildern um Grafiken handelt, die ein Computer generiert hat. Um die Aufnahmen eingängig zu machen, wurden die Daten mit viel Aufwand verarbeitet. Und ihre Farbigkeit entspringt ausschließlich der Fantasie des Wissenschaftlers am Rechner.
"Wir haben eine besondere Verantwortung, wenn wir solche Bilder in der Öffentlichkeit zeigen. Wir müssen sicherstellen, dass die Betrachter begreifen, wie die Bilder entstehen und was man wirklich aus ihnen lesen kann", sagt Paul Root Wolpe, der die Aufnahmen im Fall Schiavo zwar plakativ genutzt hatte, sich aber für einen aufklärerischen Umgang mit ihnen einsetzt. Zumal die Tomografien Extrembeispiele für jene modernen Bilder darstellen, die Wissen vermitteln sollen, in Wahrheit aber nur Überzeugungen begründen. Ein Problem, das im evolutionär verwurzelten Vertrauen in den Sehsinn gründet, das sich aber seit Erfindung der Fotografie massiv verstärkt hat.
So ließen die ersten Fotos den Menschen oft zu Recht glauben, sie öffneten ihm die Augen. Selbst bei der simplen Betrachtung der Natur: Hatten Maler in den Tagen vor der Erfindung der Fotografie zum Beispiel galoppierende Pferde noch dargestellt wie rennende Hunde, beide Vorderbeine nach vorn gestreckt, beide Hinterbeine nach hinten, halfen Fotos, dieses Missverständnis zu lösen.
In den 1870er Jahren veröffentlichte der Fotopionier Eadweard Muybridge seine sequenziellen Aufnahmen eines galoppierenden Pferdes und erst danach durchschauten die Menschen die Bewegung der Tiere. Fortan verschaffte die Fotografie den Menschen noch häufig Durchblick bis das Vertrauen zu groß und die Schlussfolgerungen zu schwerwiegend wurden.
Das ist nicht nur in der Spionage und in der Kriegsberichterstattung der Fall, sondern eben auch in der Medizin. Beim Betrachten einer Mammografie etwa kann es viel Leid bedeuten, wenn der Arzt in einem grauen Schatten einen Tumor erkennt, den es in Wirklichkeit nicht gibt. "Es ist eine mittlere Katastrophe", sagt der Psychologe Pöppel. "Die Hirnforschung und die Radiologie lassen sich viel zu stark von Bildern leiten. Diese Ikonomanie ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb es in diesen Disziplinen so häufig zu Fehleinschätzungen kommt."
Ein Problem, das durch künstliche Farben wie in den Hirnaufnahmen noch vergrößert wird. Denn Farben haben eine starke emotionale Bedeutung. Je tiefer rot etwas dargestellt ist, desto dramatischer wirkt es. Bekannt ist diese Wirkung auch aus grafischen Zukunftsprognosen zur globalen Erwärmung, die aus rotfleckigen Weltkarten bestehen. "Schon wenn der Hintergrund anders gefärbt ist, wird ein Objekt anders wahrgenommen", sagt Thomas Lehmann vom Institut für Medizinische Informatik der Universität Aachen.
Die weiteste Dimension gewinnt das Problem jedoch durch Forscher, die Aufnahmen generieren und dann selbst dem schönen Schein erliegen. So habe etwa der Glaube an die medizinischen Bilder die iranischen Zwillinge Ladan und Laleh Bidschani im Jahr 2003 das Leben gekostet, die als erwachsene Frauen getrennt wurden, sagt Knieper. "Erst während der Operation haben die Ärzte gemerkt, dass es noch viele kleine Blutgefäße zwischen den Hirnen der Frauen gab, die sie auf den Bildern gar nicht gesehen hatten."
Es ist dieser Glaube an die Bilder, mit dem Wissenschaftler immer wieder Schrecken verbreiten: unter Rauchern etwa, deren Hirne auf PET-Scans inaktiv wirken. Oder unter Jugendlichen in der Techno-Szene und deren Eltern, die vor einigen Jahren mit Angst einflößenden Hirnbildern von Ecstasy-Konsumenten konfrontiert wurden.
Damals hatten Psychologen und Radiologen vom renommierten National Institute of Mental Health und der ebenso berühmten Johns Hopkins University in Baltimore in der angesehenen Fachzeitschrift Lancet Hirnscans veröffentlicht, denen zufolge schon wenige Drogen-Trips mit Ecstasy dem Zentralorgan nachhaltig schadeten. Während die Bilder aus dem Gehirn eines Drogen-Abstinenten bunt flackerten, schien das Hirn eines Ecstasy-Users geschrumpft, dunkel und dumpf zu sein. Drogenbeauftragte und Elternverbände liefen Sturm. Die Zeitungen überschlugen sich mit Warnungen und die oberste US-Drogenforschungsstelle druckte die Bilder auf ein Plakat, um junge Leute von dem hirnfressenden Teufelszeug fernzuhalten.
Erst später zeigte sich: Ganz so schlimm ist die Raver-Droge nicht. "Die Autoren der Publikation hatten nicht durchschnittliche Bilder ihrer Testpersonen abgedruckt, wie vorurteilsfreie Wissenschaft es eigentlich verlangen würde", sagt Joseph Dumit, Wissenschaftstheoretiker am Massachusetts Institute of Technology. "Vielmehr haben sie aus jeder Gruppe das Extrem ausgewählt: unter den Abstinenzlern das bunteste Gehirn und unter den Drogennutzern das graueste." Dennoch waren sich die Autoren keiner Schuld bewusst. Ihren eigenen Bildern erlegen, glaubten sie tatsächlich, besonders aufregende Ergebnisse erzielt zu haben.
"Bilder bedeuten eine gigantische Reduktion unserer komplexen Welt", sagt Ernst Pöppel. "Aber so wie in den Abbildungen ist die Wirklichkeit nicht. Das fängt schon damit an, dass die medizinischen Bilder nur Standbilder sind, während die Wirklichkeit dynamisch ist." Diese Komplexitätsreduktion sei aber durchaus angenehm: Sie verstärkt die Wahrnehmungsweise des Menschen, dessen Auge in der Umwelt Bestätigung von Vorurteilen sucht. "Wir verzichten daher häufig darauf nachzufragen, wie die Welt wirklich ist", sagt Pöppel.
Um hingegen wahre Informationen aus Bildern ziehen zu können, müsse man sich der Besonderheiten der eigenen Wahrnehmung bewusst werden, fordert der Kommunikationswissenschaftler Knieper. Das müsse der Mensch eigentlich in der Schule lernen ebenso wie Lesen und Schreiben: Er müsse die zahlreichen Assoziationen zu erkennen lernen, die jedes Bild im Betrachter auslöst, weshalb Fotos, Grafiken und Gemälde eine so große suggestive Kraft entfalten. "Bilder werden immer zusammen mit Gefühlen und mit Orten abgespeichert", erläutert Pöppel. "Deshalb macht erst Reflexion gutes Sehen aus", ergänzt Knieper, "aber kaum jemand reflektiert über visuelle Reize."
Das Bewusstsein von der eigenen Wahrnehmungsschwäche sei immerhin ein erster Schritt, sagen die Psychologen. Wolle man seine visuellen Vorurteile bekämpfen, könne etwa ein Schild über dem Schreibtisch helfen: "Versuch es auch anders zu sehen!"
Korrektur: Ursprünglich hieß es in diesem Text, die "iranischen Zwillinge Lea und Tabea" seien Anfang 2005 nach der Trennung ihrer aneinander gewachsenen Köpfe gestorben. Tatsächlich hießen die jungen Frauen Ladan und Laleh Bidschani, und die Operation fand im Jahr 2003 statt. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.