Warschauer Ghetto Archäologen fahnden nach verschollenem Arbeiter-Archiv

Seit 70 Jahren ist das wertvolle Archiv des Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes in Polen verschollen. Nach einem Hinweis haben Archäologen nun eine neue Suchaktion begonnen - auf dem Gelände des einstigen Warschauer Ghettos.
Warschauer Ghetto (im Mai 1943): Suche nach dem wertvollen "Bund"-Archiv

Warschauer Ghetto (im Mai 1943): Suche nach dem wertvollen "Bund"-Archiv

Foto: DPA/ CAF

Der Krasinski-Park im Warschauer Zentrum ist eine grüne Oase hinter dem Obersten Gericht der Stadt, umrahmt von massiven Wohnblöcken aus den fünfziger Jahren. Ortsfremde können sich kaum vorstellen, dass hier vor mehr als 70 Jahren, im Frühjahr 1943, das Warschauer Ghetto brannte. Zbigniew Polak, Archäologe vom Städtischen Historischen Museum, trotzt hier derzeit mit seinem Team dem Winterwetter. Rund vier Wochen lang wollen die Archäologen in dem Park Fundamente von Häusern des einstigen Ghettos freilegen. Sie hoffen, das seit Jahrzehnten vermisste Archiv des Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, zu finden.

"Das wäre eine wissenschaftliche Sensation", sagt Polak. "Aber eine hundertprozentige Garantie gibt es natürlich nicht." Versuche, das Archiv der meist kurz als "Bund" bezeichneten Organisation wiederzufinden, gab es bereits mehrfach. Im Frühjahr brachte ein Brief des YIVO Institute for Jewish Research in New York dann die neue Suchaktion ins Rollen.

Der Brief enthielt einen konkreten Hinweis auf das Versteck des Archivs: In einem Keller in der Swietojerska-Straße solle es liegen, schreibt ein Schulfreund von Marek Edelmann darin. Der vor wenigen Jahren gestorbene Edelman war nicht nur der letzte noch lebende Anführer des Ghetto-Aufstands, er war auch seit seiner Jugend Mitglied im "Bund" - und derjenige, der das Archiv in den letzten Wochen des Aufstands in einem Keller versteckt hatte.

Enthält das Archiv Dokumente zum Ghetto-Aufstand?

Bisher haben die Archäologen erst Fundamente freigelegt. Der Zustand der Mauern lässt hoffen, dass auch die Keller noch erhalten sind. Die Forscher haben Gebrauchsgegenstände aufgespürt, die Überreste einer ehemaligen Schneiderwerkstatt. Auf den ganz großen Fund warten sie aber noch.

Was das Archiv enthält, ist vorerst noch im Bereich der Spekulationen. Doch die Historikerin Eleonora Bergman, langjährige Leiterin des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, hält es nicht für ausgeschlossen, dass es Material zur Zusammenarbeit der jüdischen und der polnischen Widerstandsbewegung gibt, "womöglich sogar Dokumente im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Ghetto-Aufstands".

"Der 'Bund' gab Zeitungen heraus, erstellte Analysen über die politische Situation in Polen und Europa - diese Dokumente müssen großen historischen Wert haben", glaubt die langjährige Edelman-Vertraute Paula Sawicka

Ein Drittel der Bevölkerung auf drei Prozent des Stadtgebiets

Im Warschauer Ghetto lebten zeitweise bis zu 460.000 Menschen. In dem von einer Mauer umgebenen und seit Mitte November 1940 vom Rest Warschaus abgeriegelten Gebiet war etwa ein Drittel der Stadtbevölkerung auf nicht einmal drei Prozent der Fläche Warschaus zusammengepfercht.

Nach Schätzungen starben 100.000 Menschen an den Folgen des Hungers. Im Juli 1942 begannen die Massendeportationen aus dem Ghetto - angeblich zum Arbeitseinsatz, tatsächlich aber in das Vernichtungslager Treblinka.

Als im Frühjahr 1943 eine neue Deportationswelle drohte, formierte sich der Widerstand. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch etwa 70.000 Menschen im Ghetto. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Bereits während des Kriegs wurde er zu einem Symbol von jüdischem Mut und Kampfgeist.

che/dpa
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