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Funde vor Estland: Wikinger auf Beutezug

Foto: Maili Roio

Wikinger-Kriegsschiff vor Estland Die ersten Wilden Kerle

Auf einer Insel vor Estland haben Archäologen das früheste bekannte Wikinger-Kriegsschiff inklusive Besatzung gefunden. Die toten Skandinavier fern der Heimat sind ein Beleg dafür, dass Wikinger schon lange vor dem Überfall auf das englische Kloster Lindisfarne auf Raubzug gingen.

Am 8. Juni des Jahres 793 landete eine Horde äußerst gewalttätiger Männer aus Skandinavien auf der kleinen Insel Lindisfarne im Norden Englands. Sie fielen über das Kloster her, stahlen und verwüsteten alles, was nicht niet- und nagelfest war. Glaubt man den Historikern, so war es, als ob an jenem Tag Pandora ihre Büchse geöffnet hätte. Der Überfall auf Lindisfarne gilt als der erste Wikingerüberfall der Geschichte - fortan aber waren sie überall und verbreiteten sogar über die Grenzen Europas hinaus ihren Schrecken. "Nie zuvor hat Britannien solchen Horror gesehen wie wir ihn nun von dieser heidnischen Rasse erleiden", schreibt der Gelehrte Alkuin aus Northumbrien am Hofe Karls des Großen über die Wikingereinfälle bei sich zu Hause. "Die Heiden vergießen das Blut der Heiligen um den Altar, trampeln auf den Körpern der Heiligen im Tempel Gottes wie auf Kot in den Straßen", klagt er. Und laut der Angelsächsischen Chronik war das Auftauchen der Wikinger gar nur das letzte in einer Reihe böser Omen jenen Jahres - die Chronik erwähnt den Überfall auf Lindisfarne in einem Zug mit Wirbelstürmen, Blitzen und feuerspeienden Drachen, die am Himmel gesichtet wurden.

Alkuin und den angelsächsischen Chronisten mag es so vorgekommen sein. Doch in Wahrheit machte es natürlich nicht einfach "Pop!" und plötzlich war ab dem Jahr 793 alles voller marodierender Wikingerhorden, die in technisch ausgereiften Schiffen die Welt eroberten. Auch diese Schiffe mussten erst einmal entwickelt werden. Die Waffen mussten ebenso erprobt und perfektioniert werden. Ein Spur früherer Expeditionen haben die estnischen Archäologen Marge Konsa von der Universität Tartu und Jüri Peets von der Universität Tallinn auf der Insel Saaremaa entdeckt: Zwei Schiffe, gefüllt mit toten Skandinaviern. Eine gescheiterte Raub-Expedition? "Dies ist unser erster Vorgeschmack auf das Zeitalter der Wikinger", sagt Konsa in einem Beitrag in der Zeitschrift "Archaeology".

Kein Fischerboot, sondern ein Kriegsschiff

Konsa war es, die zunächst das kleinere der beiden Boote ausgrub. Sieben Männer lagen darin. Mit einem Computerprogramm, das normalerweise Forensiker benutzen, um den Zustand an Tatorten von Verbrechen zu rekonstruieren, bestimmte die Archäologin die Position der Toten. Ordnung herrschte keine an Bord: Einige lagen zu zweit, andere alleine, einige lehnten dahingesunken gegen die Schiffswand. Alle waren Männer und zwischen 18 und 45 Jahre alt. Einige hatten persönliche Gegenstände bei sich, ein Messer, einen Schleifstein oder einen Kamm. Konsa konnte genug Holz von den Bootsplanken für eine Radiokarbondatierung retten. Das Schiff wurde demnach zwischen 650 und 700 gebaut. Wahrscheinlich war es einige Jahrzehnte in Gebrauch, bevor es auf Saaremaa zum Grab wurde. Ein Segel gab es nicht, die Männer mussten die Strömung nutzen oder rudern. Trotzdem war der Zweck des Gefährtes eindeutig: "Das ist kein Fischerboot, das ist ein Kriegsschiff", ist Konsa sich sicher. "Es ist schnell und schmal und ziemlich leicht."

Die Überraschung kam jedoch, als nur wenig später Jüri Peets nur 30 Meter weiter ein zweites Schiff entdeckte, das den Namen Salme 2 bekam. Aus den Holzresten schloss er, dass dieses einen Kiel besaß: notwendig, um ein Schiff zu segeln. Bisher galt ein um 820 gebautes Schiff aus dem norwegischen Oseberg, in dem eine hochrangige Frau bestattet war, als ältestes Segelschiff der Wikinger. Aber Peets fand noch mehr. In der Mitte von Salme 2 entdeckte er einen Haufen Eisen und Holz - Reste des Mastes? Dazu passten Spuren von Stoff, die er aus der Erde barg. Stimmt seine Vermutung, dann nutzen die Wikinger bereits etwa ein Jahrhundert vor Lindisfarne den Wind, um die Ostsee zu überqueren.

Mit Schwert und Schild bestattet

Doch nicht nur das Schiff war besser als seine kleine Schwester Salme 1, auch scheint die Crew einen höheren Status genossen zu haben. Hier lehnte niemand gegen die Bordwand, alle 33 Toten der Salme 2 waren säuberlich in Reihen geschichtet - je vier übereinander. Ihre Beigaben waren reicher als die ihrer Kollegen: Waffen, Kämme aus Elchgeweih und Tieropfer begleiteten sie ins Jenseits. Die Ausgräber fanden Knochen von Schafen, Kühen, Hunden und sogar eines Habichts. Zum Schluss bedeckte man die Toten mit ihren Schilden.

Reiche Bestattungen in Schiffen sind zwar auch aus späterer Zeit bekannt. Aber stets sind es Einzelne, die ihre letzte Ruhe in einem Schiff finden - oder zumindest ein Individuum, das deutlich höher gestellt ist als die anderen. Hier aber haben wir es mit einem kollektiven Begräbnis zu tun - einer Vorform der späteren Schiffsbestattungen wie in Oseberg oder dem englischen Sutton Hoo? Gleichberechtigt waren die Toten von Salme 2 trotzdem nicht. Während die unten liegenden einfache Eisenklingen als Waffen trugen, waren die oben liegenden mit doppelschneidigen Schwertern mit reich verzierten Griffen ausgestattet. Das bemerkenswerteste von diesen trägt Juwelen am Griff. Es lag neben einem Mann, dem eine Schachfigur aus Walross-Elfenbein im Mund steckte - möglicherweise ein "König".

Vernarbte Veteranen

Wer waren diese skandinavischen Pioniere? Und was trieb sie so weit über die Ostsee? Auf jeden Fall müssen sie ein furchterregender Haufen gewesen sein. Mit einer durchschnittlichen Körpergröße von über 1,80 Meter überragten sie die allermeisten ihrer Zeitgenossen.

Scharten an den Knochen, die zu Lebzeiten als entstellende Narben sichtbar gewesen sein müssen, erzählen von zurückliegenden Schlachten, die sie überlebt hatten, bevor sie an die estnische Küste kamen. Wahrscheinlich war es ebenfalls eine Schlacht, die ihr Leben beendete. Fünf der Toten tragen Wunden, die nicht mehr verheilten - also unmittelbar um den Todeszeitpunkt herum zugefügt wurden. Einer verlor seinen Arm, einem anderen schlug jemand den oberen Teil des Schädels ab.

Die Legende von König Yngvar

Fand hier eine große Schlacht statt? Oder waren es nur einheimische Bauern, die ihren Grund und Boden gegen die wilde Horde aus dem Norden verteidigten? Und wer war es, der die Toten für ihre letzte Ruhe in die Schiffe bettete? Wahrscheinlich waren es ihre überlebenden Kameraden, die ihnen die letzte Ehre erwiesen, bevor sie eiligst wieder gen Skandinavien zurückruderten. Und von den Ereignissen an der Küste Estlands erzählten. Eine skandinavische Sage berichtet von dem schwedischen König Yngvar, der um 600 in Estland einfiel. "Die Männer Estlands kamen aus dem Landesinneren mit einer großen Armee, und es gab eine Schlacht; aber die Armee des Landes war so tapfer, dass die Schweden ihr nicht standhalten konnten, und König Yngvar fiel und seine Männer flohen", heißt es.

Die Versuchung ist natürlich groß, in dem Toten mit der Schachfigur im Mund Yngvar zu vermuten - doch archäologisch lässt sich das nicht beweisen. "Es ist gefährlich, in den Booten von Salme nach Yngvar zu suchen", sagt Konsa. "Aber die Funde zeigen, dass Ereignisse, wie sie in der Sage beschrieben werden, sich tatsächlich zugetragen haben."

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