Christian Stöcker

YouTube, Facebook & Co. Sehend ins Verderben

Wenn man einen Roboter darauf ansetzt, sich möglichst viele YouTube-Videos hintereinander anzusehen, landet er verlässlich bei Horror und Verschwörungstheorien. Woran das liegt? An uns allen.
Foto: Nicolas Armer/ dpa

"Professor Elder, der Erfinder des Audimeters, bereute dessen Effekt schließlich. Der Rundfunk, sagte er 'leidet sehr unter dem Missbrauch der Einschaltquoten, und deshalb bin ich nicht allzu glücklich über die Rolle, die ich bei ihrer Einführung gespielt habe.'"

Tim Wu, "The Attention Merchants"

Der Vater meines besten Grundschulfreundes war Pächter einer Autobahnraststätte. Einmal durften wir gemeinsam einen Tag dort verbringen, und einen Teil davon unüberwacht im Lager, einem Paradies für Neunjährige: deckenhohe Stahlregale voller Schokoriegel, Gummibärchen, Lollis, Marshmallows, Kaugummi, Limonadendosen und so weiter. Danach war uns schlecht.

Kinder unbeaufsichtigt in einem Raum voller Süßigkeiten zu lassen, ist keine gute Idee. Man überlässt ihnen auch nicht die alleinige Entscheidung darüber, wie sie sich ernähren wollen, denn bis sich die Erkenntnis einstellt, dass ab und zu mal etwas "Gesundes" dabei sein sollte, wäre es womöglich schon zu spät.

Fressen, fressen, fressen

Nun ernährt sich die Menschheit schon, solange es sie gibt, wir haben also eine gewisse Übung darin. Mit Medien, insbesondere audiovisuellen, ist das anders: Das Fernsehen als Massenmedium gibt es seit den Fünfzigern, Facebook seit 2004, YouTube erst seit 2005. Entsprechend mangelhaft ausgeprägt ist unsere Fähigkeit zum vernünftigen Umgang mit diesen neuen Belohnungsquellen.

Der Gedanke ist nicht neu, ganz im Gegenteil: Jedes Mal, wenn sich ein neues Medium durchsetzt, gibt es moralische Entrüstung, Panik und apokalyptische Warnungen. Sogar vor der hirnzersetzenden Macht des Romans wurde einst ängstlich gewarnt. In den Siebzigern sprach man in gewissen Kreisen ängstlich über "Fernsehsucht", und eben hat die Weltgesundheitsorganisation entschieden, künftig "Videospielsucht" als psychische Störung zu führen.

Unsere Gesellschaften sind nicht schnell genug dabei, in Analogie zu gesunder Ernährung - und selbst darin sind wir bis heute ja ziemlich schlecht - flächendeckend gesunden Mediengebrauch zu etablieren. Also pathologisieren wir die Ausreißer, die es übertreiben: romansüchtig, fernsehsüchtig, videospielsüchtig, internetsüchtig. Das greift immer zu kurz.

Die Maschine sieht uns zu, die ganze Zeit

Die belohnenden Wirkungen von Medieninhalten sind nicht so einfach vorherzusagen wie die von Lebensmitteln. Zucker funktioniert immer, Eltern wissen das. Aber welches Video, welcher Film, welche Art Foto sorgt dafür, dass wir immer mehr wollen? Dass ein möglichst breites Publikum angesprochen und dessen Aufmerksamkeit dann zu Geld gemacht werden kann?

Spätestens seit den Dreißigern wird diese Frage mit wissenschaftlichen Methoden beackert, wie Tim Wu es in seinem eingangs zitierten, lesenswertem Buch über die Geschichte der Werbebranche nacherzählt. Der im Zitat genannte Audimeter, der erste Prototyp eines Quotenmessgeräts, ist heute eine Kuriosität. Online wird nicht anhand einer kleinen Stichprobe extrapoliert, was alle anderen wohl gesehen oder gehört haben. Online wird jeder von uns beim Mediennutzen beobachtet, permanent, detailliert, individuell.

Skrupellose Kindermädchen, die Hände voller Gummibärchen

Plattformen wie YouTube oder Facebook sind wie skrupellose Nannys, die uns ein Gummibärchen nach dem anderen reichen, ein mundgerechtes Häppchen nach dem anderen servieren. Ihr Ziel ist nicht, dass wir gesünder, fitter, kräftiger werden - sondern dass wir nicht aufhören zu essen. Und darin werden sie immer besser, denn sie lernen.

An dieser Stelle wird es für viele Leser vermutlich schwierig, sich vorzustellen, wie sich das genau anfühlt. Menschen - und davon gibt es sehr viele - die beispielsweise YouTube als Unterhaltungskanal verwenden, hangeln sich dort gern von einem Video zum nächsten weiter, manchmal stundenlang. Dabei unterstützt sie der Empfehlungsalgorithmus der Plattform, der immer neue Videos zum Ansehen vorschlägt. Dabei hat er, wie ein ehemaliger YouTube-Entwickler vergangene Woche im "Guardian " berichtete, ein primäres Ziel: die Zeit zu maximieren, die Nutzer weiterschauen. Der Algorithmus optimiert das Angebot für maximale Sehdauer, "nicht für das, was wahr, ausgewogen oder gut für die Demokratie ist", so der ehemalige Entwickler.

Krass kann Trump besser als Clinton

Dieser Mann, ein Franzose namens Guillaume Chaslot, hat ein Programm geschrieben, um zu testen, wo die Empfehlerei hinführt. Eine Art YouTube-Seh-Roboter, der sich von diversen Ausgangssuchbegriffen durch das Angebot hangelte . Dabei landete er verlässlich bei immer extremeren, immer abseitigeren Inhalten. Oft waren es Videos mit Verschwörungstheorien, und zwar besonders häufig solche, die Donald Trump gut und Hillary Clinton schlecht aussehen ließen. Das hat vermutlich nicht damit zu tun, dass man bei YouTube Trump zum Präsidenten machen wollte - sondern damit, dass besonders emotionalisierende, aufregende, krasse Inhalte eben besonders gut laufen bei YouTube. Und krass können Trump und seine Fans besser als Clinton.

Mein Ex-Kollege Konrad Lischka und ich haben vergangenes Jahr in einem Arbeitspapier  zum Thema Algorithmen und Öffentlichkeit theoretisch genau das postuliert, was Chaslot jetzt praktisch gezeigt hat: Die Wechselwirkung algorithmisch optimierter "Iss weiter!"-Plattformen mit unseren ungesunden Medienvorlieben bringt im Zweifel unsere schlimmsten Abgründe zum Vorschein. Bei YouTube laufen Videos über Selbstmordattentäter gut, Horrorversionen von Kinder-Cartoons , Verschwörungstheorien . All das, was man Facebook seit der US-Wahl vorgeworfen hat, trifft auf YouTube mindestens ebenso zu - was daran liegt, dass beide Plattformen von Algorithmen sortiert werden, die auf "Engagement" hin optimieren. Dabei werden verhaltenspsychologische Methoden eingesetzt, die Interaktion ohne Denken möglichst einfach machen sollen.

"Die Maschine war's" oder "das Publikum war's"?

Natürlich gibt es schon lange Medien, denen es primär um Reichweite geht - eine der ersten Billigzeitungen der USA im 19. Jahrhundert machte Auflage mit erfundenen Geschichten über dauergeile Mondwesen. Damals aber mussten Verleger noch raten, welches Gift dem Publikum besonders gut schmecken würde. Heute macht man das empirisch, mit globalen Maschinen, die aus einem ständig wachsenden, kostenlosen Fundus an Schrott und Horror die messbar quotenträchtigsten Häppchen heraussuchen und automatisch servieren. Noch eins und noch eins.

Die Sprecher der betreffenden Unternehmen reagieren auf entsprechende Diagnosen verlässlich mit den zwei gleichen Antworten: "Wir waren's nicht, die Maschine war's" - und "Wir waren's nicht, das Publikum war's". Auf den Hinweis, dass der Empfehlungsalgorithmus offenbar Trump gegenüber Clinton bevorzugte, antwortete eine YouTube-Sprecherin dem "Guardian", das reflektiere eben "das Zuschauerinteresse".

Vermutlich stimmt das sogar. Die digitalen Medienkonsum-Nannys der großen Plattformbetreiber füttern uns mit dem, was wir augenscheinlich wollen - und führen uns so die Abgründe der Menschheit vor Augen.

Gesund ist das nicht.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren