

Zeitumstellung Schafft die Winterzeit ab!

Spielen bis es dunkel wird
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Spielen bis es dunkel wird
Foto: Imago"Wenn einige der Stunden verschwendeten Sonnenlichts vom Anfang des Tages abgezogen und seinem Ende hinzugefügt werden könnten, wie viele Vorteile würde das allen bringen, vor allem jenen, die, wenn das Licht es gestattet, all ihre nach Erledigung der täglichen Pflichten verbleibende Zeit im Freien verbringen."
Der Bauunternehmer William Willet im Pamphlet , "Die Verschwendung des Tageslichts" (1907)
An wen denken Sie bei "all jene, die all ihre (...) Zeit im Freien verbringen"? William Willet, der wahre Erfinder der Sommerzeit , meinte damit vermutlich sich selbst und seinesgleichen. Angeblich kam ihm die Idee zu einer sommerlichen Zeitumstellung bei einem morgendlichen Ausritt, als er überall fest geschlossene Fensterläden vorfand. Heute dagegen sind morgendliche und abendliche Ausritte ja auch unter Gentlemen eher die Ausnahme. Ich denke bei Menschen, die nach Möglichkeit all ihre freie Zeit im Freien verbringen, als Erstes an jemand ganz anderen: an Kinder. Und denen wird heute mal wieder übel mitgespielt. Wie jedes Jahr um diese Zeit.
Am gestrigen Samstag ging die Sonne in Hamburg um 17:51 unter, damit begann die Zeit des Tages, die mit dem schönen Fachausdruck Bürgerliche Dämmerung bezeichnet wird und knapp 40 Minuten dauert. In dieser Zeit kann man im Freien noch ohne künstliche Beleuchtung lesen, so ist die Bürgerliche Dämmerung definiert. Noch ein bisschen länger, bis kurz vor 19:00 Uhr, dauerte die wunderbare Blaue Stunde . Stockfinster war es erst um 19:50.
Heute, am Sonntag nach der Zeitumstellung, wird es in Hamburg um 18:48 Uhr Nacht. Ja: Nacht. Obwohl im Fernsehen noch das sogenannte Vorabendprogramm läuft.
Spätestens dann werden die meisten Eltern jüngerer Kinder ihren Nachwuchs zusammentrommeln und nach drinnen verfrachten. Die Kinder dürfen dann zwar eine Stunde länger aufbleiben als am Vortag. Aber das gelingt nicht allen - dafür sind sie einfach zu müde. Dafür sind sie am nächsten Morgen garantiert eine Stunde zu früh wach. All das führt ein paar Tage lang zu Schlafmangel und schlechter Laune auf allen Seiten. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.
Die Umstellung von Sommer- auf Winter- oder genauer: auf Normalzeit ist jedes Jahr wieder eine Quälerei. Eine Erinnerung, dass höhere, gottgleiche Mächte wider jede Vernunft an der Uhr herumdrehen dürfen, ohne, dass man sich dagegen wehren könnte.
Nutzen bringt die Zeitumstellung nicht, die Energiespareffekte sind zu vernachlässigen, das ist längst erwiesen. Schaden dagegen bringt sie schon, auch das lässt sich nachweisen. 74 Prozent der Deutschen halten die Umstellung für überflüssig. Trotzdem ändert sich nichts. Trotz aller Initiativen und guten Argumente. Es ist verrückt.
Allerdings wollen, und das hat mich dann doch erstaunt, von weit über 82.000 Menschen, die dieses Frühjahr an einer SPIEGEL-ONLINE-Abstimmung zum Thema teilgenommen haben, fast 55 Prozent die Sommerzeit abschaffen und nur 31,6 Prozent die Winterzeit. Das kann ich nicht nachvollziehen. Morgens dunkel ist mir egal. Abends dunkel finde ich deprimierend und kinderfeindlich.
Das Parlament der Balearen hat gerade die spanische Regierung einstimmig - einstimmig! - gebeten, doch wegen der weit östlichen Lage der Inseln bitte das ganze Jahr über die Sommerzeit behalten zu dürfen, und diesen Wunsch kann ich hervorragend nachvollziehen. Lieber abends ein bisschen länger hell, lieber nicht Ende Oktober jedes Jahr von einem Tag auf den anderen immer bei Dunkelheit aus dem Büro kommen, monatelang, lieber abends noch mal draußen sitzen, wenn das Wetter es zulässt. Es gibt aber, das sei hier der Form halber erwähnt, Menschen, die das vehement anders sehen.
Die spanische Regierung hat auf den balearischen Wunsch reagiert - und sich für nicht zuständig erklärt. Die Abschaffung der Sommerzeit kann nur die EU als Ganzes beschließen. Und wie gut die EU darin ist, sich über grundlegende Fragen zu einigen, ist ja gerade mal wieder live und in allen hässlichen Einzelheiten mitzuerleben. Die Kommission hat für entsprechende Vorstöße ohnehin nur Spott übrig .
Es gibt übrigens ein Land, dass das mit der ewigen Sommerzeit schon mal ausprobiert hat: Russland. 2011 schaffte der damalige Präsident Dmitrij Medwedew die Zeitumstellung ab, nur noch die Sommerzeit sollte gelten, die Abende auf Dauer länger werden. Angeblich sorgte sich Medwedew aber weniger um draußen spielende Kinder als um Kühe und deren Verwirrung durch wechselnde Melkzeiten. So hat jeder seine Prioritäten. Auch die Türkei hat kürzlich die ewige Sommerzeit eingeführt.
Gegen Medwedew Maßnahme aber gab es Proteste, und zwar auch von jemandem, der in Russland dafür bekannt ist, dass er gern lange schläft: Wladimir Putin. Der erklärte damals, dass er nach der Änderung morgens im Winter nun noch schwerer aus dem Bett komme. Im Jahr 2014, nun selbst wieder Präsident, schaffte Putin mit Hilfe des Parlamentes die ewige Sommerzeit wieder ab. Seitdem herrscht in Russland - zumindest, was die Uhrzeiten angeht - ewiger Winter.
Wäre es nicht schön, wenn es in Europa stattdessen den ewigen Sommer gäbe?
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Dankbarkeit: Am 6. April 1980 wurde in beiden deutschen Staaten die Sommerzeit eingeführt. Die tägliche Stunde mehr an Tageslicht konnte Schlagersänger Howard Carpendale anscheinend gut gebrauchen. Aus diesem Grund verehrte er ein paar Monate später Bundesinnenminister Gerhart Baum diese Uhr. Sie besaß zwei Stundenzeiger für Sommer- und Winterzeit. Ganz uneigennützig war die Aktion allerdings nicht. Carpendale warb damit eifrig für seine neue Platte "Eine Stunde für Dich". Dem Minister drückte er gleich ein Exemplar in die Hand.
Premiere: Zum ersten Mal vergriffen sich die Deutschen im Ersten Weltkrieg an der Uhrzeit. Um potenziell kriegsentscheidende Energie in Form von Kohle, Paraffin und Gas zu sparen, führte das Deutsche Reich 1916 die Sommerzeit ein. "Der 1. Mai 1916 beginnt am 30. April 1916 nachmittags elf Uhr nach der gegenwärtigen Zeitrechnung. Der 30. September 1916 endet eine Stunde nach Mitternacht im Sinne dieser Verordnung", hieß es im Reichsgesetzblatt.
Zeitaufrüstung: Gut drei Wochen später folgte der Kriegsgegner Großbritannien. Ob die Zeitumstellung tatsächlich Auswirkungen auf den Kriegsverlauf hatte, ist zweifelhaft. 1919 kam in der Weimarer Republik keine Mehrheit für die Beibehaltung der Sommerzeit zustande. Doch 1940 hieß es für die Deutschen erneut, an den Zeigern zu drehen. Im Zweiten Weltkrieg sollte erneut eine Stunde mehr Tageslicht zum "Endsieg" beitragen.
Zeitabrüstung: 1947 herrschte auf Anweisung der Alliierten sogar eine "Hochsommerzeit" mit einer Zeitverschiebung von zwei Stunden im besiegten Deutschland. Erst mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 endete die Zeitumstellung wieder als eine Art Kriegsrelikt. Auf dem Bild nutzt ein Arbeiter 1955 die weltgrößte Kuckucksuhr in Wiesbaden zum Uhrenvergleich.
Zeitsalat: 1979 überraschte die DDR die Bundesrepublik mit ihrer Ankündigung, im nächsten Jahr ihre Uhren auf die Sommerzeit umzustellen. In aller Eile zog Westdeutschland nach. Die Zeitumstellung bedeutete für diese Dame in Freital bei Dresden 1996 offenbar erheblichen Aufwand.
Ölung: 1980 sorgten in Westdeutschland rund 2000 Zeitumsteller für den rechtzeitigen Wechsel öffentlicher Uhren, aber auch wichtiger Zeitmesser wie Stechuhren auf die Sommerzeit. Ein Uhrwerk wie hier im Kölner Dom ist erheblich schwerer umzustellen als die handelsübliche Armbanduhr. Zuvor wird die Uhr gründlich inspiziert und gegebenenfalls geölt.
Milchstau: Proteste erhoben 1980 die Bauern gegen die Einführung der Sommerzeit. Milchkühe sind an regelmäßige Melkzeiten gewöhnt. Die Sorge war allerdings unbegründet: Nach ein paar Tagen hatten sich die Kühe an die Umstellung gewöhnt.
Armes Vieh: Auch Verkehrsexperten sehen die Sommerzeit kritisch. Weil Dämmerung und der Beginn des Berufsverkehrs durch die Zeitverschiebung zusammenfallen, kommt es zu vermehrten Unfällen mit Wildtieren auf den Straßen.
Oldtimer: Im Oktober 1980 schockierte die DDR die westdeutschen Politiker erneut. Weil die Einführung der Sommerzeit statt einer Ersparnis sogar zusätzliche Kosten produziert habe, wollte der Arbeiter- und Bauernstaat 1981 auf die Zeitumstellung verzichten. Als das hier abgebildete Uhrwerk gebaut wurde, war die Sommerzeit allerdings noch lange nicht erfunden: Seit 1379 misst die älteste noch funktionsfähige astronomische Uhr in der Rostocker Kirche St. Marien die Zeit.
Gut geölt: Ziemlich aufwendig ist die Zeitumstellung bei der Weltuhr von August Noll aus dem Jahr 1888. Uhrenmachermeister und Restaurator Richard Menke stellt hier am 25. Oktober 2007 gerade die Uhrzeit ein.
Zeitlos: Für den Flugverkehr ist die Zeitumstellung kein Problem. Weil sich die Flieger nach der "Koordinierten Weltzeit" richten, sind sie davon unabhängig. Lediglich die Art der Umrechnung in die lokale Zeitzone ändert sich. Hier betrachtet ein Mann auf dem Bremer Flughafen Uhren mit unterschiedlichen Zeitzonen.
Schlafstörung: Die Zeitumstellung beschäftigt auch die Wissenschaft. Im Klinikum Helios in Erfurt wurde 2008 beispielsweise im Schlaflabor erforscht, welche Auswirkungen der Wechsel zwischen Sommer- und Winterzeit auf den Menschen hat.
Unbestechlich: Eine wirkliche Energieersparnis durch die Sommerzeit bezweifelte bereits 1980 die Bundesregierung. Sie hoffte stattdessen auf einen "pädagogischen Effekt" bei den Bundesbürgern zum Energiesparen.
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