Zukunftsforschung Wie wir im Jahr 2020 leben werden
Es regnete nicht, als Noah seine Arche baute. Und über der Automobilbranche strahlte die Sonne, als Toyota sich für das kommende Unwetter wappnete. Anfang der neunziger Jahre baute man Autos gemeinhin so, wie man es seit den Zeiten von Carl Benz getan hatte: mit dem guten alten Verbrennungsmotor. Die Manager amerikanischer und europäischer Autokonzerne belächelten die schrulligen Japaner, die an kombinierten Elektro- und Benzinmotoren tüftelten, so genannten Hybridantrieben. Heute, gut zehn Jahre später, lacht man bei Toyota. Während US-Autobauer beim Verkauf im eigenen Land Verluste machen, entwickeln sich japanische Hybridautos zu Kassenschlagern.
Wie fanden die Japaner ihre Chance, wo die westliche Konkurrenz fehlging? Der Berater Peter Schwartz, Mitgründer des kalifornischen Global Business Network, hatte für Toyota mögliche Szenarien des künftigen Automarkts entworfen und erkannt: Die strengen Abgasbestimmungen von amerikanischen Bundesstaaten wie Kalifornien würden mit der alten Technik künftig nicht zu erfüllen sein. Während Ford und GM halbherzig an "aufgeschönten Golfwagen" (Schwartz) bastelten, bündelte die Toyota-Führung ihre Ressourcen auf die Hybridtechnik.
Damit lieferte Toyota ein Glanzstück dessen, was man "Zukunftsforschung in Unternehmen" nennen kann, oder mit einem griffigen Anglizismus "Corporate Foresight". Und führte vor, wie sehr es sich für Unternehmen lohnen kann, Perspektive und Zeithorizont ihrer Planungen weit zu wählen.
Eigentlich versteht sich von selbst, dass ein Technologie-Unternehmen nicht blindlings in die Zukunft steuert. Energiekonzerne und ihre Ausrüster planen für ihre gewaltigen Investitionen routinemäßig ein halbes Jahrhundert voraus, und selbst Handyhersteller wissen genau, wo sie in ein paar Jahren in ihrem wechselhaften Geschäftsfeld stehen wollen. Neu ist, dass Unternehmen auch ihre Innovationsstrategie an Grundsatzbetrachtungen über die Zukunft ausrichten - siehe Toyota. "Man geht dazu über, technologische Roadmaps aus Zukunftsszenarien abzuleiten", sagt der Innovationsforscher Martin Möhrle von der Universität Bremen. Für die Zukunftsforschung geht damit ein alter Wunsch in Erfüllung: Sie kann die Zukunft mitbestimmen, statt sie nur passiv zu antizipieren.
Allerdings tritt sie ihre Traumrolle fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit an. Bis auf wenige Ausnahmen wahren die Unternehmen ihre Zukunftsvorstellungen als Betriebsgeheimnis. Immerhin rückt die unternehmerische Zukunftsforschung nun ein Stück weiter aus dem Dunkel der Planungsstäbe: Siemens sucht mit einer Studie über die Lebenswelt im Jahr 2020 den Dialog mit der Öffentlichkeit. Entwickelt sich die Technik zum diskreten, allgegenwärtigen Helfer? Oder zur permanenten Nervensäge? Wer darf in wessen Genen lesen? Wird die Kommunikationstechnik Chancengleichheit zwischen den sozialen Gruppen schaffen oder neue Gräben ziehen? Solche Fragen will der Konzern nicht nur still für sich erörtern, sondern in breiter öffentlicher Diskussion.
Das Marktforschungsinstitut TNS Infratest hat in Siemens-Auftrag das 319-Seiten-Werk "Horizons2020" erstellt. Grundlage ist eine Befragung von 116 Fachleuten aus ganz Europa, Ergebnis die Beschreibung von zwei Szenarien aus der riesigen Vielzahl von möglichen Zukünften.
Zehn unaufhaltsame "Megatrends" sind beiden Szenarien gemeinsam, werden also von der großen Mehrheit der Experten als unzweifelhaft angesehen. Dazu zählen die zunehmende Globalisierung, die Alterung der Gesellschaft und die engere Vernetzung der Kommunikationsmedien.
Darüber hinaus etablierte sich während der Befragung Einigkeit über weitere so genannte Deskriptoren - Aussagen, die in möglichen Zukunftsszenarien richtig oder falsch sein können. In Sachen Technik wird allgemein die Parallelexistenz mehrerer World Wide Webs erwartet - was "die Sortierung erschwert sowie unkontrollierbare Inhalte vermehrt".
Jenseits der insgesamt 124 unstrittigen Deskriptoren machen die Szenarien keine Vorhersagen. Sie sollen lediglich den Möglichkeitsraum abstecken, in den sich die wirkliche Welt entwickeln wird. Wegen der verbleibenden 76 "kritischen" Deskriptoren ist dieser Raum riesig, denn jeder von ihnen kann zutreffen oder nicht. Macht rein rechnerisch 2 hoch 76 verschiedene mögliche Zukunftswelten, die der Menschheit für 2020 ins Haus stehen könnten.
Doch die beiden ausgearbeiteten Szenarien sind nicht beliebig aus der Menge möglicher Zukünfte herausgepickt. Denn die kritischen Deskriptoren sind nicht unabhängig voneinander: Wenn etwa die Wirtschaftsverbände bis zum Jahr 2020 an Einfluss verlieren sollten, wird es plausibel, dass auch die Macht der Gewerkschaften sinkt. Solche Wechselwirkungen, ausgedrückt in Zahlen, trugen die Infratest-Forscher in eine so genannte Konsistenzmatrix ein, aus der ein Computer zwei besonders schlüssige Szenarien berechnete.
Szenario Nummer 1 ist das gemächlichere. Seine Bewohner verlangen eher nach Beständigkeit als nach wirtschaftlicher Dynamik und Innovation. Sie schaffen sich Freiräume von ihrer technisierten Umgebung und nehmen eine Stagnation der europäischen Wirtschaft in Kauf. Ein erstarkter Staat sorgt ausgiebig für Bildung, Sicherheit und gesundheitliches Wohl seiner Bürger. Und: Beide Geschlechter sind auf allen Führungsebenen gleich vertreten. Die Kehrseite des gemütlicheren Wirtschaftens liegt darin, dass viele Familien Zweit- oder Drittjobs brauchen, "um den Lebensunterhalt zu bestreiten". Unternehmen müssen sich auf "preiswerte Produkte und Dienstleistungen" fokussieren.
Vielleicht etwas überraschend: Der Gesellschaft dieses ersten Szenarios mit seinem starken Staat und den geschwächten Unternehmen wird dennoch eine große Offenheit gegenüber neuen Technologien zugesprochen. Auf diese Weise - und durch öffentliche Förderung - sind Quantencomputer zur Realität geworden, und automatische Übersetzungssysteme haben exotischen Regionalsprachen das Überleben gesichert. Doch die Technikfreude hat Grenzen: "Die erhöhten Anforderungen für den Schutz der Privatsphäre machen es nicht wirtschaftlich, Alltagsgegenstände generell zu vernetzen" - RFID-Tags, die viele Unternehmen derzeit als, nun ja, zukunftsträchtig sehen, müssen also meistens draußen bleiben.
Eine wichtige Rolle kommt angesichts der weithin erwarteten Steigerung des Durchschnittsalters dem Gesundheitswesen zu. In Szenario 1 hängen die Menschen an ihren ethischen Werten, daher tragen sie willig ein solidarisches Gesundheitssystem. Andererseits setzt die verbreitete Ethik der medizinischen Innovation Grenzen. Die Gesellschaft muss auf neue Therapiemethoden wie die Zellchirurgie verzichten und versagt sich die pränatale Diagnostik bis auf Fälle sehr schwerer Krankheiten. Um Geld zu sparen, müssen die Menschen häufig selbst Hand an sich selbst legen: In "Health-to-Go-Centern" können sie selbst den Blutdruck messen und Blut- oder Urinproben auf einen Diagnose-Chip geben.
In Szenario 2 geht es hektischer zu: Der globalisierte Markt bestimmt das Lebenstempo, der Staat zieht sich auf Kernaufgaben zurück...
Weiter im zweiten Teil:
Szenario 2 dürfte für manchen ungemütlicher werden: Der Staat überlässt die Menschen ihrer Eigenverantwortung. Alte Moralvorstellungen weichen dem allgemeinen Streben nach dem eigenen Vorteil.
Zeit avanciert zum Luxusgut: Die Gesellschaft zerfällt in "time poor, money rich" und "time rich, money poor". Es gibt "eine relevante Zahl von Menschen, die mangels Ausbildung und aufgrund gestiegener Anforderungen am Arbeitsplatz nur knapp über dem Existenzminimum leben". Wer allerdings nicht durch das Raster fällt, der hat es im 2020 dieses Szenarios besser: "Von denjenigen Personen, die als Spezialisten am Arbeitsmarkt auftreten oder eine sehr gefragte Qualifikation aufweisen, wird dieser flexibilisierte Arbeitsmarkt genutzt, um Privat- und Arbeitsleben nach ihren Vorstellungen zu gestalten". Das Rentenalter steigt auf fast 70 Jahre an, aber bis dahin gibt es mehrere Unterbrechungen der Arbeit - zur Weiterbildung oder schlicht zum Ausspannen.
Auch in Szenario 2 gilt der Satz "Die Gesellschaft ist geprägt durch eine große Offenheit gegenüber neuen Technologien". Aber im Konkreten zeigt sich eine ganz andere Zukunftswelt. So werden hier munter "alle Technologien genutzt, die es ermöglichen, bereits vor der Geburt auf das menschliche Leben Einfluss zu nehmen".
Auf den ersten Blick scheint das zweite Szenario das technikfreundlichere zu sein: Staat und Gesellschaft lassen den Ingenieuren freien Lauf, der Druck des Markts treibt die Innovation. Willig lassen sich die Menschen von allerlei autonomen intelligenten Systemen umgeben - während im ersten Szenario sogar "technikfreie Zonen" in Mode kommen. Deren Bewohner aber wissen selektiver von technischer Innovation zu profitieren: Das wachsende Umweltbewusstsein stimuliert die Brennstoffzellentechnik. Insgesamt unterscheidet sich das hypothetische Weltenpaar der Studie nicht wesentlich in der technischen Ausstattung, aber deutlich in der Akzeptanz und Verbreitung der verfügbaren Technik.
Der spezielle Reiz der Horizons-Studie liegt in der Zusammenschau von künftiger Politik, Wirtschaft, Technik und Gesellschaft. Technische Innovation erscheint nur als einer von vielen alltagsprägenden Faktoren. Es kann den Verbrauchern nur recht sein, wenn Unternehmen zumindest in weit gefassten Szenarien denken, die gesellschaftliche Bedürfnisse mit berücksichtigen, statt nur Marktdaten und technische Roadmaps.
Es ist kein Zufall, dass hinter dem Horizons-Report ein Großkonzern steckt. Kleine Unternehmen tun sich schwer, die für Zukunftsforschung notwendigen Ressourcen aufzubringen. So entsteht das Risiko eines Zukunftskartells: Die Großen könnten ihre Dominanz missbrauchen, um der Gesellschaft ihre Wunschvisionen aufzuschwatzen. Die wohl beste Chance der Kleinen liegt in einer Art Open-Source-Futurologie: Spezielle Stiftungen könnten Multi-Client-Studien durchführen oder öffentliche Datenpools aus Expertenbefragungen aufbauen.
Aber wie viele Zukunftsstudien auch immer angefertigt werden mögen, eines werden sie alle nicht ändern können: Die Zukunft ist ungewiss. Der beste Weg, sie im Voraus zu kennen, liegt für jeden Einzelnen immer noch darin, sie zu gestalten.
© Technology Review, Heise Zeitschriften Verlag, Hannover