MEDIZIN Müder Blick
Mit roten Augen, »wie nach einer durchheulten Nacht«, und brummendem Schädel kam Roswitha Kurth in die Sprechstunde. Nach acht Stunden an der Schreibmaschine, so klagte sie ihrem Arzt, könne sie abends kaum noch eine Illustrierte lesen.
Eine Brille -- das zeigte die Untersuchung -- brauchte die 40jährige Stenotypistin nicht. Vielmehr: Ursache ihrer Beschwerden war das Licht an ihrem Arbeitsplatz -- bläulich flirrendes Weiß aus Leuchtstoffröhren an der Decke eines Großraumbüros.
Das übliche Leiden, Kurz- oder Weitsichtigkeit, hatte Dr. Gerd Höfling, Augenarzt im bergischen Wülfrath, immer wieder vermutet, wenn ein Patient mit müdem Blick vor ihm in der Praxis saß. Doch dann lenkte er seine Aufmerksamkeit auf das oft viel zu intensive Ersatzlicht, das in Fabrikhallen, Schreibsälen und Büros den Leuten zusetzt.
Zwar wurden die energiesparenden Leuchtstoffröhren in den letzten Jahren weiterentwickelt; verbessert wurden die Farbtönung der Lampen und die Farbwiedergabe der beleuchteten Gegenstände. Jedoch sei die Zahl der Berufstätigen, die am Leuchtstofflicht leiden, so bemängelt Höfling in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift«, dadurch keineswegs zurückgegangen.
Denn immer noch verordnen Lichttechniker Schülern, Arbeitern und Angestellten viel zu hohe Beleuchtungsstärken. Monotonie durch ständig gleichbleibendes Licht -- im Unterschied zur wechselnden Sonnenstrahlung -- strapaziert das Auge. An Bildschirmgeräten oder blanken Arbeitsplatten verstärken Blend- und Glanzeffekte diesen Streß noch.
Höflings Kollegen bestätigen die schlechten Erfahrungen mit dem Leuchtstofflicht, das -- 1936 Attraktion auf der Weltausstellung in Paris -- fortan die Glühlampe am Arbeitsplatz fast völlig verdrängte.
Fast jedem praktischen Arzt seien beispielsweise die Warenhausverkäuferinnen bekannt, die nach einem Kunstlicht-Arbeitstag über Augen- und Kopfschmerzen klagen, weiß Professor Fritz Hollwich. Er testete an der Universitäts-Augenklinik in Münster die biologische Wirkung des Röhrenlichts in zahlreichen Versuchen.
So zeigten etwa Untersuchungen, bei denen die Hormonspiegel von normal Sehenden mit denen von Kriegsblinden S.200 verglichen wurden, daß intensive, andauernde Röhrenbeleuchtung den Organismus zu einer stark erhöhten Ausschüttung des Streßhormons Cortisol anreizt.
Lichttechniker geben zwar zu, daß mit der künstlichen Beleuchtung manches im argen liegt:
* Fast die Hälfte aller westdeutschen Schüler, so bemängelt die Frankfurter Fördergemeinschaft »Gutes Licht« (Slogan: »Nicht funzeln"), müsse bei Licht aus defekten oder verschmutzten Lampen lernen; oft würden die Kinder durch die Leuchten geblendet und gestört.
* In Bibliotheken schaue der Leser bisweilen »in eine Flut greller, total überstrahlter Lampen«.
* In zahlreichen Arbeitsräumen machten auch Spiegelungen auf blanken Flächen im Gesichtsfeld »die Arbeit zur Qual«.
Überzeugt sind die Lichttechniker jedoch weiterhin davon, daß viel Leuchtstofflicht auch viel Leistung bringt. In einem Schreibraum -- so stellte die Frankfurter Fördergemeinschaft fest -- wurde beim Akkordtippen in starker Beleuchtung von 2000 Lux die Fehlerzahl wesentlich geringer als bei 650 oder 200 Lux.
( Lux: Maßeinheit für ) ( Beleuchtungsintensität. 100 000 Lux ) ( entsprechen der durchschnittlichen ) ( Helligkeit eines sonnigen Tages. )
Für die Mediziner hingegen sind bei solcher Beleuchtung Auge und Organismus längst überfordert und einem schädlichen »Lichtstreß« ausgesetzt. Im derart hell ausgestrahlten Raum sinke die Arbeitseffektivität bald wieder ab. Die unnatürliche Monotonie der gleichmäßigen Beleuchtung ermüde auf die Dauer. Verstärkt werde diese Wirkung noch durch die andersartige spektrale Zusammensetzung des Röhrenlichts und -- bei Wechselstrom -durch störendes Flirren.
Selbst die alte Tischlampe, so meinen Höfling und Hollwich, gibt ein naturgemäßeres Licht; durch einfaches Schwenken können Glanz- und Blendeffekte beseitigt werden. Für eine optimale Beleuchtung am Arbeitsplatz sollten daher nach Ansicht der Ärzte Glühlampen mit relativ schwachen Röhren kombiniert werden, die unterschiedliche Spektralbereiche abdecken.
Bisher allerdings stießen die Mediziner mit ihren Vorschlägen auf taube Ohren. Nicht selten verbieten Firmen ihren Angestellten sogar, sich die eigene Lampe auf den Tisch zu stellen.
S.200Lux: Maßeinheit für Beleuchtungsintensität. 100 000 Lux entsprechender durchschnittlichen Helligkeit eines sonnigen Tages.*