Umwelt Nähe zum Wasser
Draußen ist es schön warm, die Sonne scheint. Die Freunde amüsieren sich im Garten oder liegen im Schwimmbad. Petra Schwartz-Klapp, 27, sitzt mit rotumrandeten Augen im Zimmer. Der Biologiestudentin ist zum Heulen zumute.
Stechende Schmerzen im Augapfel plagen sie, bei jedem Lidschlag kratzt es, als ob lauter Sandkörnchen vor der Linse säßen. Ständig träufelt sich die Leidende eine durchsichtige Flüssigkeit ins Auge, einen künstlichen Tränenersatz. Ihr Problem ist, daß sie nicht mehr weinen kann.
Die Studentin leidet am sogenannten Trockenen Auge. So nennen die Mediziner ein immer häufiger auftauchendes Krankheitssyndrom. Dabei ist die Tränenschicht, die als Schutzfilm vor dem Augapfel liegt, nicht mehr intakt, weil die körpereigenen Organe nicht genug Tränenflüssigkeit produzieren. Zuwenig Tränen können im Extremfall zu einer Linsentrübung oder gar zur Erblindung führen. Früher fielen Störungen bei der Tränenbildung fast nur in Verbindung mit bestimmten Infektionen, Verletzungen oder einem Mangel an Vitamin A auf. Mittlerweile befassen sich Konferenzen und Kongresse mit der schmerzhaften Augenplage, einige Augenärzte gründeten gar eine Initiativgruppe »Trockenes Auge«. Die unangenehme Krankheit sei »zum Volksleiden geworden«, meint der Aachener Ophthalmologe Hans Stolze.
Jeder vierte Patient, berichtet der münstersche Augenarzt Jörg Koch, klage heute über Brennen oder Jucken in den Augen, einen seltsamen Druck hinterm Augapfel oder über das Gefühl, ein unauffindbarer Fremdkörper trübe die Sehkraft. Bundesweit wird die Zahl der am Trockenen Auge leidenden Patienten derzeit auf sechs bis acht Millionen geschätzt.
Besonders davon betroffen sind Frauen in den Wechseljahren sowie Menschen, die streßhemmende Medikamente wie Betablocker, Schlafmittel oder Psychopharmaka zu sich nehmen. Immer öfter tauchen aber auch Männer in den Arztpraxen auf - Diagnose: krankhafte Tränenarmut.
Um den Augenschmerz zu mildern, träufeln die Ärzte künstlichen Tränenersatz in den Bindehautsack. Die wäßrige Lösung ist mittlerweile so gefragt, daß sie innerhalb der medikamentösen Behandlung von Augenleiden den zweitgrößten Posten ausmacht. Freilich können die Tropfen die Aufgaben der echt vergossenen Tränen nicht vollständig ersetzen.
Das natürliche Augennaß besteht nicht nur aus Wasser- und Sauerstoff. In einem Tränentropfen können mehr als 60 verschiedene Eiweißverbindungen enthalten sein, außerdem Substanzen wie Mangan und Kupfer, Chlor und Phosphor, Ammoniak und Bicarbonat. Überdies haben Wissenschaftler ein vom Körper produziertes Schmerzmittel (Leuzin-Enkophalin) in der Tränenflüssigkeit nachgewiesen sowie Spuren des Hormons Prolaktin, das vermehrt bei Streß entstehen kann.
Zuviel Prolaktin kann nach Meinung des amerikanischen Tränenforschers William Frey zu Stoffwechselstörungen führen. Weinen hält der Wissenschaftler daher für ungemein nützlich, nicht nur, um Streß abzubauen.
Ähnlich wie Schweiß und Urin schwemmen auch die Augenwässer Schadstoffe aus, die den Körper sonst belasten würden. Menschen, die zuwenig weinen, sind nach US-Studien anfälliger für Herz- und Kreislaufleiden sowie für Asthma und Magengeschwüre.
Frauen weinen im Durchschnitt fünfmal mehr als Männer. Die Nähe zum Wasser ist beim weiblichen Geschlecht vermutlich hormonell bedingt: Während der Schwangerschaft etwa, einer Zeit, in der Frauen besonders häufig ins Schluchzen kommen, bildet der Körper erhebliche Mengen des Hormons Prolaktin, das die Milchproduktion anregt.
Zwei mandelgroße Tränendrüsen, die unter den Oberlidern im äußeren Augenwinkel sitzen, dazu verschiedene kleinere Drüsen in der Bindehaut produzieren den farblosen Körpersaft. Normalerweise liegt er als feiner Film über der Bindehaut, die Tränenflüssigkeit schützt vor Bakterien und vielerlei Schadstoffen und versorgt die Hornhaut mit Sauerstoff.
Als hauchdünne Glasur verteilen sich die Tränen mit jedem Lidschlag neu auf der Linse. Wenn der Tränenfilm dünner wird, verstärkt sich der unwillkürliche Drang, die Augenlider zu bewegen. Allzu häufiges Blinzeln, wie es Bundeskanzler Helmut Kohl bei seinen Fernsehauftritten zeigt, kann ein erstes Krankheitszeichen sein.
Die Ursachen des Leidens sind noch wenig erforscht. Der Münsteraner Koch, der für den Berufsverband der Augenärzte soeben ein Merkblatt »Trockenes Auge« verfaßt hat, das bald in allen Arztpraxen ausliegen wird, sieht einen Zusammenhang mit den modernen Umwelteinflüssen.
Die Arbeit am Bildschirm, aber auch die trockene Luft in Büros mit Klimaanlagen könnten die »Instabilität des Tränenfilms fördern«, meint Koch. Luftschadstoffe wie das Sonnengift Ozon und Autoabgase stehen ebenfalls als Tränenschädiger unter Verdacht.
Für diese Vermutung sprechen auch die Tagebuchaufzeichnungen der Biologiestudentin Schwartz-Klapp. Monatelang protokollierte sie täglich die Befindlichkeit ihrer Augen; gleichzeitig holte sie von der Gemeinde die Ozonwerte ein. Nach ihrem Bericht ergab sich eine »verblüffende Parallelität": Bei mehr als 80 Mikrogramm Ozon pro Kubikmeter Luft stellten sich erste Beschwerden ein.
Noch gibt es außer der ständigen Anwendung von Augentropfen keine wirksame Therapie gegen den Tränenschwund. In sehr schweren Fällen jedoch weiß der Pariser Augenarzt Jean-Antoine Bernard Rat: Der Mediziner hat eine sogenannte Tränen-Prothese erfunden.
Dabei wird ein fast haardünner Schlauch unter der Haut vom Ohr bis zur Augenhöhle vorgeschoben, daraus sickert ständig ein künstliches Tränenserum in den Bindehautsack. Der Schlauch führt hinterm Ohr am Hals entlang unter die Achsel, wo ein Tränenspeicher mit einer batteriebetriebenen Pumpe sitzt, die das Serum ins Auge befördert.
Der Tränensack könne wie ein Walkman unterm Arm getragen werden, berichtet der Arzt. Das hinterm Ohr freiliegende Schlauchteil sei besonders bei Frauen leicht unter dem Haupthaar zu verstecken - tränenlose Glatzköpfe haben ein weiteres Problem. Y
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_158b Produktion u. Verteilung d. Tränenflüssigkeit
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