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TIERE Nahrhafte Nager

In deutschen Wäldern hat der Bestand an Eichhörnchen beunruhigend abgenommen - droht den possierlichen Kletterkünstlern der Artentod? *
aus DER SPIEGEL 9/1985

Seit Urzeiten ist der haarige Kobold mit dem auffallend langen, buschigen Schweif Wegbegleiter des Menschen gewesen.

Griechische Barden besangen ihn ("der mit dem Schwanze sich Schattende"); die Nordmänner gaben ihm in der altgermanischen Mythologie gar eine Schlüsselrolle für die lotrechte Lage ihrer Welt: Im Geäst der Weltesche Yggdrasil trug das Eichhörnchen Ratatoskr unablässig Beleidigungen zwischen dem im Wurzelwerk hausenden Drachen Nidhöggr und dem im Wipfel weilenden Adler hin und her.

»Das Eichhörnchen«, postulierte Zoologe Alfred Brehm schon 1863 in der

Erstausgabe seines »Tierlebens«, sei »einer von den wenigen Nagern, mit denen sich der Mensch so recht innig befreundet« habe, »des Kindes und des Mannes Freude im frischen, grünen Walde, und trotz mancher unangenehmer Eigenschaften ein gern gesehener Genosse«.

Nun, gut 120 Jahre später, fragen sich Forstleute, Jäger und Wildbiologen, wie lange der pelzige Genosse »mit majestätisch geringeltem, hoch emporgetragenem Schweife« (so der Dichter Friedrich Rückert) wohl überhaupt noch zu sehen sein werde. Gewiß, in den städtischen Parks tummeln sich die Eichkatzen wie eh und je, schlüpfen schon früh aus ihren Kobeln, um den Schulkindern über die Ranzen zu turnen oder Nüsse und Körner aus Rentnerhänden zu grapschen.

Doch draußen, in Wald und Flur, sieht es anders aus. »Eichhörnchen sind aus meinem Revier verschwunden«, befand Wilhelm Schuster, Jagdpächter in Bad Nauheim. Einen »auffälligen Rückgang« der Eichkatzenpopulation beobachtete Landesforstmeister Hans-Joachim Fröhlich, Hessens oberster Forstbeamter.

»Das Nahrungsangebot für Eichhörnchen ist nach wie vor in Hülle und Fülle vorhanden, Haselnüsse in Massen und unbeschreiblich viele Fichtenzapfen, aber die Brüder, die sie so gern fressen, sind einfach nicht mehr da«, wunderte sich auch Forstamtmann Günter Schneider, Herrscher über ein riesiges Rotwild-Revier am Knollen bei Bad Lauterberg im Harz.

Forstleute schätzen das Eichhörnchen, dem in seinem Einstandsgebiet meist mehrere moosgepolsterte Baum-Wohnungen gehören, wegen seiner Rolle als Planteur des Waldes. Denn wie sonst nur der Eichelhäher, vergräbt das Tier überall Baumsamen und Nüsse. Später, in winterlicher Notzeit, möchte sich die Eichkatze an ihnen sättigen. Häufig jedoch kann der kühne Akrobat, der stets - ob am Boden, ob am Baumstamm - jeweils die Vorder- oder Hinterpfoten gleichzeitig aufsetzt, seine versteckten Nahrungsdepots nicht wiederfinden. Der übersehene Samen keimt, und das unwillentlich pflanzfreudige Wesen trägt so zur Verbreitung etlicher Baumarten bei.

Wie es um die Zukunft der eigenen Art bestellt ist, kann derzeit »keiner genau sagen, denn es gibt keine Erhebungen« (so Wildbiologe Rüdiger Schröpfer, Universität Osnabrück). Sicher ist nur, daß die Eichhörnchen, mit geringfügigen regionalen Unterschieden, immer seltener zu beobachten sind. Ein halbwegs zuverlässiges Indiz bietet die Jagdstatistik der Dänen.

In Dänemark, einem der wenigen Länder, die Eichhörnchen (wegen ihres Balges) noch als jagdbares Wild einstufen, wurden noch vor fünf Jahren rund 10 000 Eichhörnchen erlegt (fast so viele wie Kaninchen), zwei Jahre später nur noch 4000 und letztes Jahr kaum noch eine Handvoll.

Im Bundesgebiet untersteht das Eichhörnchen nicht dem Jagdgesetz und ist als »nicht geschütztes, nicht jagdbares« Geschöpf eingestuft. Zwar durfte es laut Bundesnaturschutzgesetz schon seit langem »ohne vernünftigen Grund« nicht getötet werden, ausgenommen in besonderen Fällen, etwa wenn sich die Tiere als Nesträuber oder Schädiger von Baumschulen über Gebühr hervortaten. Seit 1980 dürfen die Eichhörnchen jedoch, wie die Bundesartenschutzverordnung vorschreibt, überhaupt nicht mehr verfolgt werden, wie vielen Vögeln sie auch immer die Eier rauben.

Um so rätselhafter mutet der Populationsschwund an, dem diese Tierart (Höchstalter: zehn bis zwölf Jahre) offenkundig unterliegt. Für Jagdpächter Schuster ist der Schuldige, jedenfalls in der Nauheimer Region, längst gefunden: »Die hat der Habicht alle weggeputzt.«

Ähnliches vermutet auch der Lauterberger Förster Schneider: »Habicht nebst Sperber setzten den Eichhörnchen mit Sicherheit stärker zu als irgendwas anderes.« Heinz Sielmann, Leiter so mancher TV-»Expedition ins Tierreich«, bestätigte diese von Weidmännern vertretene Ansicht und nahm sogar Partei gegen die nahrhaften Nager: »Der Habicht lebt weitgehend vom Eichhörnchen, und das ist auch gut so.«

Seit 1977 werden, wie alle übrigen Greife auch, Habichte und die ihnen ähnlichen Sperber von jedweder Bejagung gesetzlich verschont. Sie haben sich daher in manchen Gebieten zügellos verbreiten können. Beide Raubvögel, vor allem der größere und stärkere Habicht, jagen und schlagen überfallartig in Bäumen und am Boden.

Viele Jäger verdächtigen den Habicht, er bringe nicht nur Eichhörnchen, sondern auch jungen Hasen, Fasanen und Rebhühnern frühen Tod. Ihr Lamento über den Rückgang der Eichhörnchen zielt darauf ab, wieder Schußzeiten für den Habicht (und den Mäusebussard) zu erlangen, um den Räuber »kurzzuhalten« und den bedrängten Tierarten Luft zu verschaffen. Immerhin hatte Wildforscher Otto Uttendörfer schon vor Jahren bei Untersuchungen herausgefunden, daß von 713 vom Habicht erbeuteten Säugetieren 259 Eichhörnchen waren.

Doch längst nicht alle Biologen und Jagdexperten teilen diese Ansicht. Die »Forschungsstelle für Jagdkunde und Wildschadenverhütung« in Bonn bestätigte zwar einen »allgemeinen Rückgang der Eichhörnchenpopulation« in bestimmten Gebieten, sah jedoch keinen zweifelsfreien Zusammenhang mit der gleichzeitigen »starken Zunahme des Habichts«, denn: »Genauere Ursachenforschung wird nicht betrieben.«

Daher sind auch jene Experten kaum zu widerlegen, deren Deutung der hessische Landesforstmeister Fröhlich so formulierte: »Marder greifen stark in die Bestände ein, viel schlimmer als der Habicht.« Neben dem kletterkundigen Baummarder, dem Erzfeind des Eichhörnchens, hat sich in den Revieren der Steinmarder, gleichfalls ein versierter Kletterer, stark ausgebreitet.

Wahrscheinlich sind, wie beim Hasen, auch Populationschwankungen im Spiel. Aber das kann einstweilen nur vermutet werden. Wildbiologe Schröpfer: »Darüber wissen wir, von der biologischen Seite her, nur erschreckend wenig.«

Den Briten hatte sich der Populationszyklus der Eichhörnchen vor drei Jahren vom anderen Ende gezeigt - die Tierchen waren derart zur Plage geworden, daß die Forstverwaltungen Gift aufbieten mußten, um die Eichhörnchen zu dezimieren.

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