Antarktis-Eisanalyse Kühlhaus der Weltmeere droht auszufallen
Genau 1287 Meter und 87 Zentimeter tief grub sich der Hightech-Bohrer von Oktober bis Ende Dezember 2006 in den Meeresboden unter dem Ross-Eisschelf in der Ostantarktis. Die Ablagerungen, die mit dem Bohrkern ans Tageslicht gefördert wurden, ermöglichen eine Zeitreise. Mit jedem Meter Sediment können Wissenschaftler rund 10.000 Jahre in die Vergangenheit blicken. Die jüngste Bohrung reicht also grob rund zwölf Millionen Jahre zurück.
Die Probe könnte sich als einer der wichtigsten Bohrkerne der vergangenen Jahre herausstellen. Denn die Ablagerungen darin zeigen: Erst während der letzten Million Jahre war das Klima des Südkontinents kontinuierlich kalt, eine der größten Buchten der Antarktis ständig von einem bis zu mehrere hundert Meter dicken Eisschild bedeckt. Vor rund fünf Millionen Jahren schmolz das Schelfeis ab - und wohl auch ein beträchtlicher Teil des Festland-Eises. Wo die Forscher heute durch 80 Meter Schelfeis bohren müssen, bevor sie in 800 Metern Wassertiefe auf den Meeresgrund treffen, war damals offene See. In den folgenden rund 3,5 Millionen Jahren schwankte das Klima ständig.
So interpretiert der Geowissenschaftler Lothar Viereck-Götte die ersten vorläufigen Daten über den neuen Bohrkern auf der Website von Andrill (Antarctic Geological Drilling). Das Gemeinschaftsprojekt Deutschlands, Italiens, Neuseelands und der USA soll durch neue Bohrungen die Prähistorie der antarktischen Umweltbedingungen rekonstruieren. Das ist schwerer als es klingt, da an vielen küstennahen Stellen der Meeresboden im Lauf der Jahrtausende von Gletschern und Eisbergen umgepflügt wurde. Schlimmer noch: Weiter unten im Bohrkern treffen die Wissenschaftler häufig nur das Geröll von Endmoränen an. Doch Ende 2006 stießen das Andrill-Team 15 Kilometer außerhalb der McMurdo-Station in Richtung des Vulkans Mount Erebus auf eine Stelle mit ungestörten Ablagerungen.
Erstmals Einblicke in die Verhältnisse vor 5 Millionen Jahren
"Diesmal konnten wir die Schichten zwischen fünf und zwölf Millionen Jahre erbohren", sagte Andrill-Mitglied Viereck-Götte zu SPIEGEL ONLINE. Besonders der Einblick in die Vereisungsgeschichte der jüngsten fünf Millionen Jahre sei überraschend und neu. Bislang fehlten vergleichbare Daten. Viereck-Götte spricht von einem "erschreckenden Ergebnis": "Die Eiskappen sind wesentlich mobiler und sensibler, als wir es vermutet hatten."
"Dass das Meer hier fast eine Million Jahre eisfrei war, ist völlig neu", sagte Viereck-Götte. Zudem steht das Abschmelzen vor rund fünf Millionen Jahren im Kontext eines prähistorischen Klimawandels: Während der sogenannten Miozän-Pliozän-Erwärmung müsse in der Antarktis ein "massives Abschmelzen" stattgefunden haben. Die Ursache klingt indes alles andere als massiv: Aus Isotopenuntersuchungen von unterschiedlichen Orten weltweit wissen Paläoklimatologen, dass sich damals die weltweite Durchschnittstemperatur im Meer um zwei bis drei Grad Celsius erhöhte - eine scheinbar kleine Veränderung. Dennoch führte sie dem neuen Andrill-Bohrkern zufolge zur eisfreien Ross-See.
Kleine Mikroorganismen, sogenannte Diatomeen, verraten das den Forschern. In eisbedecktem Wasser können sie nicht leben. Doch im Bohrkern fand man sie über eben jenen Zeitraum von einer Million Jahre ununterbrochen vor. "Dass dieses System so sensibel wäre, hätten wir nicht gedacht", sagte Viereck-Götte. Eisfreie Ross-Bucht - das hat nicht bloß Konsequenzen für den Meeresspiegel.
"Die antarktischen Schelfeise haben große Bedeutung für das globale Umweltsystem", sagte Frank Niessen vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut (Awi) für Polar- und Meeresforschung. Unter den gewaltigen schwimmenden Eisflächen - alleine das Ross-Eisschelf ist so groß wie Frankreich - kühle Meerwasser stark ab und stürze wegen seiner hohen Dichte regelrecht in die Tiefsee. Die Schelfeis-Buchten des Südkontinents speisen so einen immerwährenden Kreislauf von Kalt- und Warmwasser. "Das ist ein wichtiger Motor des globalen Strömungssystem", sagte Niessen.
Ergebnisse vorläufig, Befund eindeutig
Noch befinden sich die Bohrkerne auf der Schiffspassage nach Florida. Dort treffen im Mai Andrill-Forscher aus aller Welt ein, um die Verteilung auszuhandeln: Eine Hälfte der Bohrkerne wird im Kühlhaus archiviert, die andere zerschnitten und in alle Welt verteilt. Dann werden die einzelnen Ergebnisse in Fachzeitschriften veröffentlicht. "Das lässt zumindest eine kleine Sensation erwarten", sagte Polarforscher Niessen.
Seine Kollegen aus Jena und Göttingen hoffen darauf, so viele Stückchen wie möglich mitnehmen zu können. "Wir wollen untersuchen, aus welchen Partikeln das Sediment besteht", sagte Lothar Viereck-Götte zu SPIEGEL ONLINE. So könne er genau bestimmen, welchen Anteil das Eis vom östlichen und vom westlichen antarktischen Eisschild am Abfluss in die Ross-See gehabt habe.
Schmelzendes Eis vom Inlands-Eispanzer des Südkontinents wirkt sich auch - anders als das schwimmende Schelfeis - direkt auf die weltweiten Meereshöhen aus. "Das Schelfeis stützt die Inlandseismassen", sagte Niessen. Fehle es, erhöhe sich die Bewegungs- und Schmelzgeschwindigkeit der Inlandgletscher.
"Die Botschaft des Bohrkerns"
Der Awi-Forscher hält die ersten, vorläufigen Befunde aus dem neuen Bohrkern für "deutliche Hinweise". Dass es vor fünf Millionen Jahren eine eisfreie Ross-Bucht gab, sei "definitiv sicher". Und was wie ein Detail klingt, ist zentral für eine bange Zukunftsfrage: Welche Reaktion auf die globale Erwärmung muss die Menschheit vom eisigen Südkontinent erwarten? Und wie schnell?
Bislang befürchten Klimaforscher hauptsächlich, dass der kleine westantarktische Eisschild in Folge der bis zum Ende des 21. Jahrhunderts vorhergesagten Erwärmung schrumpfen könne. Die jüngst vom Weltklimarat der Uno zusammengefassten Modellrechnungen sagen eine Erwärmung um zwei bis fünf Grad Celsius bis zum Jahr 2100 voraus. Dass davon auch der deutlich größere ostantarktische Eisschild stark in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, gehört nicht zu den Modellen der Klimasimulationen - bislang jedenfalls.
In der Miozän-Pliozän-Warmzeit wurden die Ozeane durchschnittlich nur zwei bis drei Grad Celsius wärmer. Doch auch relativ kleine Erwärmungen können größere Folgen zeitigen als bisher vermutet. "Was wir gelernt haben ist, dass das Schelfeis ein hochdynamisches System ist. Das hätten wir nicht gedacht", sagte Niessen. Dies müsse man in künftige Klimamodelle einbauen. "Das ist die Botschaft dieses Bohrkerns." Der Mensch, so scheint es, unterschätzt bislang auch die Auswirkungen kleiner Erwärmungen noch.