Bilanz für 2008 Arktiseis auf zweitniedrigstem Stand

Ilulissat-Eisfjord in Grönland (Mai 2008): "Eisfreier arktischer Ozean im Sommer ist unvermeidlich"
Foto: Slim ALLAGUI/ AFPBerlin - Immer niedriger steht die Sonne in diesen Tagen über der hohen Arktis, immer weniger gelingt es ihr, die frostige Landschaft zu erwärmen. Schon bald wird die Dunkelheit der Polarnacht das Gebiet umfassen. Mit der Schmelze des arktischen Meereises ist es damit für diesen Sommer vorbei. Zeit für die Forscher, Bilanz zu ziehen.
Die schlimmsten Prognosen, so scheint es, sind nicht eingetroffen. Weder war die unmittelbare Gegend um den Nordpol eisfrei, wie einige Wissenschaftler befürchtet hatten, noch wurde der Negativrekord des vergangenen Jahres bei der Eisausdehnung erreicht. Doch aktuelle Statistiken belegen auch, dass von einer Entspannung kaum die Rede sein kann.
Das National Snow and Ice Data Center der USA erklärte am Dienstag, die minimale Eisausdehnung habe nur knapp über den Negativrekorden des vergangenen Jahres gelegen. Man habe eine Fläche von 4,5 Millionen Quadratkilometer gemessen; im vergangenen Jahr waren es 4,1 Millionen Quadratkilometer - und damit so wenig wie noch nie seit Beginn der Satellitendatenaufzeichnung im Jahr 1979.
"Die Zahlen sind vom Verfahren abhängig", sagt Georg Heygster von der Universität Bremen im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Zusammen mit Kollegen wertet er dort Daten des Satelliten "Aqua" aus und erstellt tagesaktuelle Seeeiskarten. Nach seinen Berechnungen schmolz der arktische Eispanzer in diesem Sommer auf 4,86 Millionen Quadratkilometer zusammen, nach 4,3 Millionen im vergangenen Jahr.
Die Berechnungsmethoden unterscheiden sich zum Beispiel bei der Frage, wie genau vom Eis umschlossene Wasserflächen in die Bilanz eingehen. Auch ist es manchmal schwierig, die Satellitenbilder richtig zu interpretieren. Wasserlachen, die auf Eisschollen stehen, können dann als offene Wasserfläche angesehen werden - die Berechnung verfälschen.
Klar ist aber in jedem Fall, dass der Sommer 2008, in dem das Wetterphänomen La Nina viele Teile der Erde gekühlt hat, keine Trendwende für das arktische Meereis gebracht hat. Zum ersten Mal waren sowohl die Nordost- als auch die Nordwestpassage - zumindest kurzzeitig - eisfrei. Die Werte für die Eisausdehnung in der Arktis liegen insgesamt mehr als zwei Millionen Quadratkilometer unter dem langjährigen Minimum. Den größten Eisverlust gab es den Wissenschaftlern zufolge in der Beaufort-, der Laptew- und der Grönlandsee.
Eisforscher wie Mark Serreze vom National Snow and Ice Data Center sehen für die Zukunft nur ein Szenario: "Ein eisfreier arktischer Ozean im Sommer ist unvermeidlich." Jegliche Erholung des Eises werde nur von kurzer Dauer sein, sagte Serreze unlängst im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Ähnlich äußerte sich auch der kanadische Eisbrecherkapitän Marc Rothwell: "Was wir hier erleben, ist ein echter historischer Bruch."