
Neue Eiskarte: Vermessung des hohen Nordens
"Cryosat"-Messungen Neue Karte zeigt Dicke des Arktis-Eises
Wie schlimm steht es wirklich um das Eis der Arktis? Neue Landkarten des Satelliten "Cryosat" sollen auf diese scheinbar simple Frage präzisere Antworten als bisher ermöglichen. Brauchbare Aufnahmen gibt es bisher vor allem von der Ausdehnung der Eisflächen. Schwieriger aber ist es, ihre Stärke zu messen. "Die Eisdicke ist der Heilige Gral der Erdbeobachtung, weil sie bisher noch nicht zugänglich war", sagt Lars Kaleschke von der Universität Hamburg. Weil der Wind das Eis auftürmen kann, lassen sich nur mit Informationen zur Eisdicke ernsthafte Aussagen zum verbleibenden Eisvolumen treffen.
Eine aus "Cryosat"-Daten erstellte Karte zeigt nun, wie stark die weißen Schollen zumindest stellenweise noch sind. Die Esa veröffentlichte die Daten am Rande der Luftfahrtmesse im französischen Le Bourget - und könnte damit den beteiligten Forschern die Chance zur Veröffentlichung in einem großen Fachjournal wie "Nature" oder "Science" genommen haben. "Cryosat" liefert allerdings kontinuierlich Messwerte, was auf noch umfangreichere Erkenntnisse in der Zukunft hoffen lässt.
"Wir sehen zum ersten Mal das gesamte Eis in der Arktis", sagt Duncan Wingham vom University College London im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Der Brite hatte der Esa die Mission vorgeschlagen. Besonders interessant ist sie auch, weil der Satellit bis 88 Grad nördlicher Breite messen kann - also fast bis ganz hinauf zum Pol.
"Der erste Datenpunkt einer neuen Serie"
Die aktuelle Grafik wurde mit Messdaten vom Januar und Februar dieses Jahres erstellt. Sie zeigt mehrjähriges Eis größerer Dicke vor den Nordküsten Grönlands und des kanadischen Inselarchipels. Zum Teil sind die Schollen hier auf eine Höhe von fünf Metern zusammengeschoben. Vor der russischen Küste und in anderen Teilen der Arktis ist die Schollendicke dagegen deutlich niedriger. Hier treibt im Winter vor allem einjähriges Meereis im Wasser. Und diese Schollen überstehen die warmen Sommermonate nicht.
Die Verteilung des Eises - verantwortlich ist vor allem der Wind - ist im Prinzip keine größere Überraschung. Frühere Messungen mit U-Booten, Flugzeugen und dem Nasa-Satelliten "Ice-Sat" hatten bereits ähnliche Bilder geliefert. Und doch ist die Karte von "Cryosat" etwas Besonderes. "Das ist der erste Datenpunkt einer neuen Serie", sagt Eisforscher Wingham.
Der Satellit soll mindestens drei Jahre im All bleiben. Wenn die Esa-Staaten im kommenden Jahr frisches Geld in die Hand nehmen, kann die Mission auch noch weiter verlängert werden. Den Forschern wäre das mehr als recht: "Wenn man wirklich Trends ablesen will, braucht man lange Zeitreihen", sagt Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Nötig, so der Forscher, seien im Prinzip Beobachtungen über Jahrzehnte. Simulationen hätten gezeigt, dass die natürliche Variabilität des Eises in der Arktis sehr groß ausfallen könne.
"Es gibt zahlreiche mögliche Fehlerquellen"
Mit seinem Radar misst "Cryosat" im Prinzip zwei Dinge in noch nicht gekannter Präzision:
- den Abstand zwischen seiner Umlaufbahn in rund 700 Kilometern Höhe und der Oberseite der Eisschollen,
- die Distanz zwischen Satellit und Wasseroberfläche, wie sie zum Beispiel zwischen den einzelnen Schollen zu sehen ist.
Daraus berechnen die Forscher die Höhe des sogenannten Freibords, also wie weit die Eisschollen aus dem Wasser schauen. Rund 90 Prozent des Eises befinden sich allerdings unterhalb der Wasserlinie. Deswegen ist es entscheidend, dass die Wissenschaftler die Höhe des Meeresspiegels richtig aus den Radarsignalen herauslesen. Erst dann lässt sich aus den Satellitenmessungen die Eisdicke berechnen - wenn man die Schneeauflage auf den Schollen ebenso kennt wie die Dichte von Schnee und Eis.
"Es gibt zahlreiche mögliche Fehlerquellen", warnt Meeresforscher Kaleschke. Deswegen müssen die Messungen des Satelliten durch Expeditionen am Boden und mit dem Flugzeug validiert werden. Für "Cryosat" hat es zwar schon mehrere solcher Messkampagnen gegeben. Doch weitere werden wohl folgen müssen.
Will man das Eisvolumen berechnen, braucht man noch die Eisausdehnung. Sie wird seit Ende der siebziger Jahre durch Satelliten erfasst. Aktuell liegt die Ausdehnung des arktischen Meereises nach Angaben des National Snow and Ice Data Center in Boulder (US-Bundesstaat Colorado) bei rund 10,5 Millionen Quadratkilometern - noch unter den Werten des Jahres 2007, als es zum bisher schlechtesten Sommer für die weiße Pracht im Norden seit Beginn der Satellitenaufzeichnungen gekommen war. Seit Jahren liegen die Ausdehnungswerte weit unter dem langjährigen Mittel. Nun werden die Forscher auch die Veränderungen des Eisvolumens beobachten können.
"Cryosat" wurde von Astrium in Deutschland gebaut. Die Mission klappte allerdings erst im zweiten Anlauf. Ein erster Satellit war im Herbst 2005 in den Arktischen Ozean gestürzt. Schuld war ein Fehler der russischen Trägerrakete. Die baugleiche Neuauflage liefert nun die Daten, auf die Forscher schon so lange gewartet haben. "Die neue Karte zeigt, dass 'Cryosat' seine geophysikalischen Ziele erreichen wird", sagt Duncan Wingham.