Drittes Reich Als die Nazis "Nature" verboten
"Die 'Nature' von heute ist eine Greuelzeitschrift", hieß es in einem Artikel, der im März 1938 in der "Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft" erschien. "In jeder ihrer Nummern findet man gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichtete Hetzartikel."
Dieses Zitat dokumentiert exemplarisch die wissenschaftsfeindliche Stimmung in Nazi-Deutschland: Bücher wurden verbrannt, unliebsame Schriften verboten und Wissenschaftler aus jüdischen Familien aus Universitäten und Forschungseinrichtungen vertrieben. Auch das Fachmagazin "Nature" ließen die Nazis verbieten - es hatte ihnen zu kritisch über die Gängelung deutscher Wissenschaftler jüdischen Glaubens berichtet.
Uwe Hoßfeld und Lennart Olsson von der Universität Jena haben die Geschichte des Magazins während der Nazi-Diktatur untersucht und ihre Erkenntnisse jetzt auf "History of the Journal Nature" veröffentlicht - der Website, auf der das Fachblatt seine eigene Geschichte darstellt. Bei seinen Recherchen zur Aufarbeitung der Universitätsgeschichte Jenas war Hoßfeld auf die entscheidenden Dokumente gestoßen.
"Unerhörte Angriffe gegen die deutsche Wissenschaft"
"Nature", im Jahr 1869 gegründet, gilt neben dem US-Blatt "Science" als das weltweit renommierteste wissenschaftliche Fachmagazin. Die Veröffentlichung eines Artikels in einem der beiden Blätter kommt für die beteiligten Forscher einem Ritterschlag gleich - auch wenn es unter Wissenschaftlern durchaus Kritik an der Markt- und Meinungsmacht der großen Fachblätter gibt.
Für den Geschmack der Nazis hatte "Nature" allzu kritisch über die Vertreibung jüdischer Wissenschaftler berichtet, so das Fazit von Hoßfeld und Olsson. Bernhard Rust, Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, verbot "Nature" mit seinem Dekret vom 12. November 1937 an deutschen Bibliotheken. Seine Begründung: Das Magazin habe "unerhörte und niedrige Angriffe gegen die deutsche Wissenschaft und den nationalsozialistischen Staat" veröffentlicht.
Was war geschehen?
Zum einen, so schreiben Hoßfeld und Olsson, hatte die antibritische Propaganda in der deutschen Wissenschaftsgemeinde eine Geschichte, die bis in die Zeiten des Ersten Weltkriegs zurückreichte. Direkter Auslöser des Verbots sei eine Reihe von "Nature"-Artikeln aus den Jahren 1936 und 1937 gewesen, in denen die Ausgrenzung und Vertreibung von Wissenschaftlern jüdischen Glaubens in Deutschland kritisiert wurde.
"Göttingen hörte 1933 auf, ein Mittelpunkt der Wissenschaft zu sein. Am 30. Juni werden die Besucher in Göttingen eine einzigartige Reihe von Verlusten der Gelehrsamkeit, der Freiheit und des Lebens feiern", heißt es in dem "Nature"-Text von 1937 anlässlich der 200-Jahr-Feier der Göttinger Universität. Der Autor kritisierte damit eine bereits 1933 gestartete Säuberungswelle an der Universität, der viele "aktive" und "brillante" jüdische Wissenschaftler am mathematischen und physikalischen Institut zum Opfer gefallen seien.
Hans Rügemer, Autor des in der "Zeitschrift für die gesamten Naturwissenschaften" erschienenen Pamphlets, greift diesen Text auf. Besonders verärgert zeigt er sich darüber, dass der "Nature"-Autor alle betroffenen jüdischen Forscher mit Namen im Anhang des Artikels auflistete - darunter Forscherpersönlichkeiten wie Max Born, Mathematiker und Physiker, der nach seiner Vertreibung nach England emigrierte und 1954 den Nobelpreis für Physik erhielt - für Forschungsergebnisse, die 1926 in Göttingen entstanden waren.
Rügemer wirft den Autoren "jüdische Hassgefühle" vor und unterstellt ihnen, selbst Juden zu sein. Schließlich nimmt Rügemer das gesamte Magazin und sein Korrespondentennetz unter Generalverdacht: Seit 1933 soll "Nature" eine "antifaschistische Spitzel- und Schnüffelorganisation in Deutschland und Italien" etabliert haben.
Lesen Sie im zweiten Teil, wie strikt das Verbot umgesetzt wurde und wie Hitler einen eigenen Nobelpreis einrichten ließ
Wie strikt das Verbot von "Nature" an deutschen Bibliotheken umgesetzt wurde, darüber lässt sich nach Ansicht Hoßfelds und Olssons nur spekulieren. Im Bundesarchiv in Berlin findet sich wenig dazu. Sie vermuten, dass es regionale Unterschiede bei der Verbots-Umsetzung gab: An ihrer eigenen Universität Jena etwa fehlen "Nature"-Ausgaben von 1937. Doch ob sie weggeschlossen worden waren oder einfach nur im Krieg zerstört wurden, ist unklar. In den Universitätsbibliotheken Göttingens, Gießens und Berlins jedoch fänden sich komplette "Nature"-Ausgaben aus den dreißiger Jahren. Möglicher Grund: "Es war den Universitäten nicht verboten, ein 'Nature'-Abo zu besitzen", sagte Olsson zu SPIEGEL ONLINE. "Die 'Nature'-Ausgaben durften nur nicht öffentlich zugänglich gemacht werden."
Doch wie reagierte "Nature" auf sein Verbot in Deutschland? Sir Richard Gregory, damaliger Chefredakteur des Magazins, veröffentlichte am 22. Januar 1938 in "Nature" nur ein kurzes Schreiben, in dem er direkt Bezug auf das Dekret Rusts nimmt. Darin bestreitet Gregory, dass "Nature" jemals wissenschaftliche Beiträge deutscher Forscher attackiert habe. Stattdessen vergehe "nie eine Woche, ohne einen Kolumnen-Bericht über deutsche wissenschaftliche Arbeiten oder Zusammenfassungen wissenschaftlicher Veröffentlichungen in deutschen Fachmagazinen".
"Nature"-Chefredakteur verteidigte die kritischen Artikel
Mit klaren Worten verteidigt Gregory die kritischen "Nature"-Artikel, die Auslöser für das Verbot waren: "Wir würden die Traditionen der Wissenschaft missachten, wenn wir es versäumten, jedweden Einfluss zu verdammen, der wissenschaftliche Forschung politischer oder theologischer Dominanz unterwürfig macht."
Die falsche Darstellung in dem Dekret des Reichsministers für Wissenschaft und Bildung sei "schwer erträglich", schreibt Gregory. Jedoch bedauere er mehr die Strafe für die deutschen Leser als für "Nature" selbst. Interessanterweise, so Olsson, reichten deutsche Wissenschaftler trotz des Verbotes dennoch weiterhin Artikel bei dem Fachmagazin ein.
1941 fand er noch deutlichere Worte. In seinem Beitrag "Science in Chains" schrieb er: "Die Behauptung, dass deutsche Wissenschaft von 'Nature' oder irgendeinem anderen wissenschaftlichen Journal angegriffen worden war, ist so falsch wie unaufrichtig." Namentlich nennt er Bernhard Rust als Verantwortlichen für den Bann von "Nature" und die "Unterordnung freiheitlicher Prinzipien von Lehre und Lernen unter die Philosophie teutonischer Überlegenheit".
Das "Nature"-Verbot durch die Nazis reiht sich ein in einen langen Maßnahmenkatalog, autark vom Ausland zu werden und einen deutschen Sonderweg in der Wissenschaft zu etablieren. So war die Gründung der "Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft" selbst ein Versuch, sich im Zuge antibritischer Propaganda von ausländischen Magazinen wie "Nature" und "Science" abzusetzen. Die "Zeitschrift" erschien erstmals 1935 und wurde 1936 von Nazi-Organisationen übernommen, berichten Hoßfeld und Olsson. Dann wurde sie dem "angemessenen deutschen Geiste" angepasst. Ab 1939 wurde sie von der Ahnenerbe-Stiftung herausgegeben, der Heinrich Himmler vorstand, und sollte von da an die Rassenpolitik und die Wissenschaft des Nazi-Regimes verbreiten.
Hitler wollte einen alternativen Nobelpreis etablieren
Absurde Züge erreichten diese Maßnahmen mit dem Versuch Hitlers, einen alternativen Nobelpreis zu etablieren. Im Januar 1937 verbot Hitler allen Deutschen die Annahme des Nobelpreises - "für alle Zukunft". Stattdessen gründete er den "Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft". Dieser sollte zusammen mit einem Preisgeld von 100.000 Reichsmark jährlich "zwei Deutschen von großem Verdienst" verliehen werden. Preisträger waren unter anderem Alfred Rosenberg, einer der wichtigsten Ideologen des Nationalsozialismus, der Chirurg Ferdinand Sauerbruch, der Flugzeugbauer Willy Messerschmidt und der Autobauer Ferdinand Porsche.
Doch auch "Nature" war nicht gänzlich gefeit vor dem Zeitgeist. Wie auf "History of the Journal Nature" nachzulesen ist, veröffentlichte das Magazin seit den zwanziger Jahren Arbeiten über Methoden selektiver Geburtenkontrolle und Eugenik, die damals als Theorie in Mode war. Einer der Leitartikler des Magazins, E.W. MacBride, beispielsweise beschäftigte sich mit der seiner Meinung nach zu starken Fortpflanzung der Arbeiterklassen: "Heutzutage überleben die Arbeiter, wie dumm sie auch immer sein mögen, und stellen einen zunehmenden Anteil der zukünftigen Nation." Überbevölkerung habe England zu einem Dampfkessel ohne Sicherheitsventil gemacht. "Zwingende Geburtenkontrolle erscheint uns als die einzige Medizin", so MacBride. In den späten dreißiger Jahren, unter Sir Richard Gregory, mäßigte das Magazin seinen Ton, als in Nazi-Deutschland die Zwangssterilisation eingeführt wurde.