Drohender Bergsturz Am Eiger wackelt die Wand

Alarm am Eiger: In der Ostflanke des Berges hat sich ein Riss aufgetan, der inzwischen sieben Meter breit ist. Experten befürchten, dass schon bald ein 200 Meter hohes Felspaket aus zwei Millionen Tonnen Gestein in die Tiefe stürzt - mit dramatischen Folgen.
Von Joachim Hoelzgen

Hansruedi Burgener, der Wirt der Bäregghütte im Berner Oberland, hatte gestern Abend wieder alle Hände voll zu tun. Den Gästen mussten Tomatensuppe, Fleischvogel mit Gemüse und Kartoffelstock serviert werden - und dann musste Burgener im späten Licht noch einmal mit dem Fernglas vor die Hütte gehen.

Der Ausblick von der Bäregghütte ist atemberaubend. Nahe am Horizont ragt das 4049 Meter hohe Fiescherhorn empor. Und gleich gegenüber steigt die wilde Ostflanke des Eiger (3970 Meter) auf, deren Felsen aussehen wie der Schuppenpanzer eines alten Krokodils. Über ihnen erstreckt sich auch noch ein Hängegletscher, der sogenannte Challifirn. Und noch eine Etage höher zieht sich der untere Teil des Mittellegigrats dahin, den Bergsteiger als den luftigsten und elegantesten Anstieg auf den finsteren Riesen Eiger schätzen.

Burgener aber hat jetzt kein Auge für das imposante Panorama. Er muss einen Felsabriss beobachten, der unterhalb des Challifirns entstanden ist und der immer breiter wird. Der Spalt ist 250 Meter lang und klafft inzwischen sieben Meter auseinander - weit genug, dass er samt der Felswand darunter in die Tiefe stürzen kann. Dort würden dann zwei Millionen Tonnen Kalkgestein die Zunge des Unteren Grindelwaldgletschers zermalmen, der zwischen dem Eiger und dem benachbarten Schreckhorn (4078 Meter) talwärts fließt.

Felswand könnte Gletscher aushebeln

Im Gletscherdorf Grindelwald herrscht deshalb Alarmzustand. Man hat eine Touristenattraktion - den großen Holzsteg in der Gletscherschlucht - geschlossen. Und man beobachtet aufmerksam den Wasserstand der Schwarzen Lütschine, die vom Unteren Grindelwaldgletscher her durch das weltbekannte Bergdorf mit seinen Pulks japanischer, amerikanischer und indischer Touristen fließt.

Das instabile Felspaket in der Ostflanke des Eiger ist 200 Meter hoch, doch seine Basis ist vermutlich noch einmal so tief. Sie riegelt den Eisstrom am Rand ab und reicht mutmaßlich bis zu dessen Grund. Im Ernstfall, so lautet ein Szenario, kann die Felswand den Gletscher von der Seite her rammen und regelrecht aushebeln.

Der Bergsturz würde einen gewaltigen Pfropfen aus Eis, Wasser und Gestein bilden. Das Schmelzwasser des Gletschers würde sich stauen und dann schließlich überschwappen. Eine Flutwelle wäre die Folge, zu der es auch schon im Rekordsommer 2003 gekommen war, als die Zunge des Oberen Grindelwaldgletschers wegen der Hitze ausdünnte und einstürzte. Baumstämme und Trümmer aller Art wurden damals bis hinab in den Brienzer See getragen.

Schnell wachsender Riss

Quer durch die Alpen haben Forscher einen dramatischen Rückgang der Gletscher dokumentiert. Auch der Untere Grindelwaldgletscher ist ein Opfer der Klimaerwärmung und eines heißen Sommers wie diesem, bei dem die Nullgrad-Grenze bis auf 4500 Meter am Tag ansteigt. In den letzten 20 Jahren hat der Eisstrom pro Jahr einen Meter an Dicke verloren, und von der Besuchergalerie ist er überhaupt nicht mehr zu sehen.

Durch den Schwund hat aber auch der Druck auf die umliegenden Felswände stark abgenommen. Das führte zu Spannungen im Kalk-Karst des Eiger und schließlich zu dem Riss, den Hüttenchef Burgener Mitte Juni als Erster entdeckte.

Weil es zwei kleinere Felsabbrüche mit Staubfahnen gab, inspizierte er die Wand mit dem Feldstecher - und erspähte die Spalte, die damals nur 20 Zentimeter breit war. Burgener informierte das Gemeindeamt von Grindelwald und das wiederum den Geologen Hans Rudolf Keusen, einen Experten für Bergstürze in Zollikofen nahe Bern. Keusen hat etwa Gutachten über einen Bergsturz am Montblanc erstellt, der so mächtig war, dass er einen ganzen Teil der Montblanc-Ostwand wegrasierte.

Überwachung mit Spiegeln und Laserscanner

Um die Bewegungen an der wackeligen Wand des Eiger feststellen zu können, ließ Keusen von Bergführern Spiegel installieren und die wiederum vom Gegenhang mit Lasern anpeilen. Die Laufzeit des Laserlichts macht Verschiebungen bis auf den Millimeter genau messbar.

Die vom Absturz bedrohte Wand aber macht diese Art der Untersuchung schwierig: Steinschlag hat mittlerweile drei der ursprünglich fünf Spiegel zertrümmert. Seit Dienstag wendet der Geologe deshalb ein Hightech-Verfahren an, das in den Alpen noch nie erprobt wurde.

Keusen macht mit einem Laserscanner Bilder der Bergflanke und legt sie dann auf dem Computerbildschirm übereinander. "So lassen sich auch Bewegungen auf einer großen Fläche haarscharf darstellen", hat der Mann aus Zollikofen herausgefunden.

Die Zeit drängt, weil am gestrigen Dienstag schon wieder 1000 Kubikmeter Fels ins Tal stürzten. Doch selbst Keusen weiß trotz der modernsten Mittel nicht genau, was am Eiger noch geschehen wird. Auch Schmelzwasser spiele eine Rolle, das vom Challifirn durch Felsrisse in die Tiefe sickere und nach außen auf die Wand drücke. Und wenn die Zunge des Unteren Grindelwaldgletschers hohl ist, könnte bei dem Bergsturz die Eisdecke einbrechen. Die Felsmassen würden dem einst stolzen Gletscher damit vollends den Garaus machen und bedrohlich weit ins Tal donnern.

Doch das Hochgebirge ist schwer zu berechnen. Das Desaster könnte "in den nächsten Tagen oder in wenigen Wochen" geschehen, vermutet der Geologe. "Es kann aber auch sein", fügt er an, "dass alles am Berg zum Stillstand kommt."

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