Elefanten-Soap Stumpy und die falschen Zwerge

Elefantentreffpunkt Dzanga Bai: Reality TV pur
Foto: Dominik BaurAmerikaner lieben Seifenopern. So auch Andrea Turkalo. Die 52-jährige Frau aus Boston ist ein richtiger Soap-Junkie. Ihre Lieblingsserie spielt im Urwald. Sie wird allerdings nur in einem ganz bestimmten Freiluftkino mitten in Afrika gezeigt. Jede Folge dauert mindestens vier Stunden. Das "Kino", in dem Turkalo stets einen Balkonplatz hat, heißt Dzanga Bai und ist in Wirklichkeit eine 500 mal 250 Meter große Lichtung im Naturschutzgebiet Dzanga-Sangha in der Zentralafrikanischen Republik. Die Seifenoper, die hier jeden Tag ihre Fortsetzung findet, wird von Waldelefanten aufgeführt - Reality TV pur.
Nirgendwo sonst auf der Welt kann man Tag für Tag mit absoluter Sicherheit mehrere Dutzend dieser scheuen Tiere antreffen. Die Biologin hat sich das zu Nutzen gemacht. Als erste erforscht sie Waldelefanten durch direkte Beobachtung. Auf der Dzanga Bai wird sie Zeugin von Dramen aller Art. "Das ist das 'Dallas' der Elefantenwelt", sagt sie.
Mal spielen sich vor ihren Augen leidenschaftliche Liebesgeschichten ab - Sex-Szenen inklusive -, dann steht wieder der Ärger mit den Kindern im Mittelpunkt. Und die nächste Episode handelt dann vom traurigen Schicksal eines Waisenkindes; Elefanten, die schon in jungen Jahren die Mutter verlieren, werden später meist nicht mehr gesellschaftsfähig, weiß Turkalo inzwischen - man merkt eben sofort, wenn der strenge Rüssel der Mutter fehlt.
Anders als der viel bekanntere Savannenelefant ist der Waldelefant für die Wissenschaft noch immer ein Tier voller Geheimnisse. Als Andrea Turkalo vor 14 Jahren begonnen hat, die Elefanten der Dzanga Bai zu studieren, gab es noch keinerlei wissenschaftliche Vorarbeit, die auf der direkten Beobachtung der Tiere beruhte. Zuvor hatten Wissenschaftler anhand des Dungs oder der Spuren der Waldelefanten ihre Schlüsse gezogen.

Elefanten-Soap: Stumpy und die falschen Zwerge
Turkalo dagegen setzt sich einfach auf die vor ein paar Jahren vom Worldwide Fund for Nature (WWF) am Rande der Lichtung errichtete Aussichtsplattform und wartet darauf, dass ihre Studienobjekte von sich aus kommen. "Der Vorteil ist, dass ich die Tiere in keiner Weise störe. Das ist absolut natürliches Verhalten, was wir hier sehen." Der Nachteil: Turkalo sieht die Elefanten nur in einer sehr speziellen Umgebung. Sie weiß weder, woher sie kommen, noch, wohin sie gehen.
Auch der Crime-Faktor kommt beim "Elefanten-Dallas" nicht zu kurz. So gab es bereits mehrere Entführungsfälle auf der Lichtung. Turkalo beobachtete einige kinderlose Elefantendamen, die versuchten, die Babys von jungen, unerfahrenen Müttern zu kidnappen. "Ich sage immer: Elefanten haben keinen Penisneid, sondern Babyneid." Der Tod ist hier ebenfalls allgegenwärtig. Auf der Saline, wie Wissenschaftler solche Lichtungen nennen, liegt noch das Skelett von Almost None. Die Elefantenkuh, die ihren Namen ihren kurzen Stoßzähnen verdankte, starb vor zwei Monaten.
Penelope steht allein an ihrem Wasserloch. Sie war einst die Chefin eines großen Clans. Zu zwölft zogen sie durch den Wald. Aber dann fielen zwei der wichtigsten Kühe der Gruppe Wilderern zum Opfer und die Großfamilie zerfiel. "Wilderei ist sogar hier im Nationalpark ein großes Problem", erzählt Turkalo. Auf der Lichtung selbst sind die Elefanten bislang noch sicher. "Allein unsere Präsenz ist wahrscheinlich der beste Schutz für sie." Turkalos Camp ist nicht weit entfernt, und stets haben auch einige Wildhüter in der Nähe ihr Lager aufgeschlagen. Dennoch kommt es nicht selten vor, dass die Forscherin nachts von Schüssen aufgeschreckt wird. Sie setzt sich dann in ihren Pick-up und fährt los, um die Wildhüter zu alarmieren.
"Mamma ti doli", Mutter der Elefanten, nennen sie die Pygmäen, und Andrea Turkalo nimmt die Verantwortung, die damit einhergeht, ernst. Wissenschaft und Artenschutz gehören für sie untrennbar zusammen. "Es macht keinen Spaß, mitten in der Nacht durch den Wald zu fahren. Aber ich muss es tun. Sonst kommt der Tag, an dem hier nichts mehr ist, was ich erforschen könnte."
Auch der Regenwald wäre nicht mehr derselbe, gäbe es hier keine Elefanten mehr. "Die Elefanten sind die Architekten des Waldes", erläutert Turkalo. Nicht nur würden alle Trampelpfade zuwuchern, die die Tiere über Generationen angelegt haben, sondern es wäre auch das Ende für viele Baumarten. Die Elefanten verbreiten die Samen vieler Urwaldriesen; erst auf dem Weg durch den Verdauungstrakt eines Elefanten kommen diese zum Keimen.
Der große Lauschangriff
Den Erfolg einer Daily Soap sichern ihre Hauptdarsteller. Turkalos Lieblingscharaktere auf der Dzanga Bai sind Miss Lonelyheart, die obligatorische Zwangsneurotikerin, die auch schon mal den Kadaver eines Artgenossen zerlegt, die neugierige Elvira, die überall ihren Rüssel hineinstecken muss, und der mittlerweile gut 50 Jahre alte Noah, der prächtige Bulle, der schon von der ersten Folge an einer der Stars der Serie war.
Anders als in "Dallas" wird auf der Dzanga Bai jedoch nicht nach Öl gebohrt - sondern nach Mineralien. Den Salzen wird eine blutreinigende Wirkung zugeschrieben. Besonders auf das Mineral Kaolin, vermuten Wissenschaftler, sind die Elefanten aus. So tummeln sich jeden Tag ab Mittag dreißig bis über hundert der grauen Riesen auf der Lichtung und decken an den zahlreichen Wasserlöchern ihren Salzbedarf.
Wie das Fernmeldesystem von Paloma & Co. funktioniert und warum Stumpy ganz schön alt aussieht: Fortsetzung folgt hier

Elefanten im Nebel: Tierart voller Geheimnisse
Foto: Dominik Baur
Als Turkalo mit ihrer Forschung begann, versuchte sie zunächst, so viele Individuen kennen zu lernen wie möglich. Dazu legte sie für jeden Elefanten, den sie auf der Lichtung sah, eine Kennkarte an. Darauf zeichnete sie die Silhouette der Ohren auf, mit eventuellen Löchern oder Einrissen, vermerkte die geschätzte Länge der Stoßzähne und ihre Symmetrie, Besonderheiten des Schwanzes sowie das Geschlecht und das geschätzte Alter. Anhand dieser Daten kann sie jeden der registrierten Elefanten eindeutig identifizieren. Mittlerweile besitzt die Biologin bereits eine Kartei mit knapp 3000 Karten. "Erst wenn man sie kennt", erklärt Turkalo, "kann man ihr Verhalten studieren: Wer steht wo in der Hierarchie, welche Kuh paart sich mit welchem Bullen et cetera."
Eine wichtige Erkenntnis erlangten Turkalo und ein Kollege, als sie in den neunziger Jahren einigen der Elefanten mit einem Spezialgewehr Hautproben für einen DNA-Test entnahmen. Der genetische Vergleich mit Savannenelefanten brachte schließlich eine jahrelange wissenschaftliche Debatte zu einem Ende: Waldelefanten, das war nun belegt, sind eine eigene Art.
In jüngerer Vergangenheit beschäftigt sich die von der New Yorker Wildlife Conservation Society (WCS) finanzierte Forscherin besonders mit der akustischen Kommunikation der Elefanten. Mittels eines großen Lauschangriffes will sie das Vokabular der Elefanten entschlüsseln. Zwei Monate lang hat sie rund um die Lichtung Boxen mit einem Aufnahmegerät und einer Festplatte aufgestellt und so die gesamten "Unterhaltungen" der Elefanten in der Gegend mitgeschnitten.
Auftritt Paloma. Die rund 40 Jahre alte Elefantenkuh schiebt ihren riesigen Leib zwischen zwei Bäumen hindurch. Ihr folgen zwei Töchter und ein Enkelsohn. Am Waldrand bleiben sie zunächst stehen und sichten die Lage - das heißt vielmehr: Sie nehmen mit dem Rüssel Witterung auf. Denn Elefanten sehen sehr schlecht. Die Luft scheint rein zu sein. Langsam schiebt sich die Familie vor, bis sie ein Wasserloch in der Mitte der Lichtung erreicht. Da der Rüssel eines erwachsenen Elefanten 10 bis 15 Liter aufnehmen kann, dauert es etwas, bis Paloma die Nase voll hat. Danach wird der Erfrischungstrunk genussvoll den Schlund hinunter gespült. "Sie ähneln uns so sehr", sagt Turkalo. "Wenn sie das Wasser ansaugen, sehen sie manchmal aus, als ob sie einen guten Wein kosten."
Wenige Meter von der Aussichtsplattform entfernt steht ein kleiner, am ganzen Körper mit Lehm beschmierter Elefant. Er ist, wenn es hoch kommt, 1,50 Meter groß, hat aber schon ziemlich lange Stoßzähne und sieht auch sonst nicht allzu jung aus. Ein Zwergelefant?
"Unsinn!", lacht Andrea Turkalo. "Das ist ein alter Mythos. Es gibt keine Zwergelefanten." In der Tat war lange Zeit darüber spekuliert worden, ob es in Afrikas Wäldern noch eine weitere Elefantenart gibt, die sich in ihrer Körpergröße vollkommen an das Leben im Wald angepasst haben. Denn kleine Elefanten wie Stumpy sind keine Seltenheit. Doch das Phänomen ist leicht erklärt: Waldelefanten können schon mit anderthalb bis zwei Jahren auf sich gestellt überleben, erläutert die Expertin. "Das Kalb muss nur wissen, wie es den Rüssel benutzt und welche Früchte essbar sind und welche nicht."
In der Savanne hätte ein Elefantenjunges, das in diesem Alter seine Mutter verliert, keine Überlebenschance. Es würde von Löwen oder anderen Raubtieren gerissen, doch hier im Wald gibt es nur Leoparden, und die können Elefanten nicht gefährlich werden. Dazu kommt, dass junge Waldelefanten oft ziemlich lange Stoßzähne haben. So kam es, dass Menschen Elefanten gesehen haben, die klein waren, lange Stoßzähne hatten und allein durch den Wald streiften. Die Legende vom Zwergelefanten war geboren. "Aber wie kommt es dann", fragt Turkalo, "dass nie jemand eine Familie von Zwergelefanten gesehen hat?"
Ungefährlich ist das Leben für verwaiste Elefantenkinder jedoch auch im Wald nicht. Der vermutlich sechs- oder siebenjährige Stumpy hat bereits seine Erfahrungen mit Wilderern gemacht. Mit seinem Rüssel hat er sich einst in einer von ihnen ausgelegten Drahtschlinge verfangen. Jetzt fehlt ihm die Rüsselspitze - ein Stück von mehreren Zentimetern. Und so liefert er unfreiwillig immer wieder Slapstickeinlagen für Andreas Seifenopfer: Wenn er an das Salz am Grund der Wasserlöcher kommen möchte, muss Stumpy nämlich wegen seiner Behinderung Handstand machen.
Die Dzanga-Bai-Story ist keine Serie, die nur auf ein paar Staffeln ausgelegt ist. Es ist eine jener Soaps, die immer weiter gehen. Die Geschichten gehen nie aus - solange die Darsteller noch leben.