Elektrische Eidechse Fischefangen in der Wüste
Ingo Rechenberg brauchte für sein Experiment mehr Licht. Der trübe Himmel über Berlin war ihm nicht genug, sein Versuchsaufbau verlangte wolkenloses Firmament und kräftige ultraviolette Strahlung, wie sie nur in der Wüste zu finden ist. Rechenberg, Professor für Bionik und Evolutionstechnik, hatte einen Bioreaktor entwickelt, der Wasserstoff produziert.
Purpurbakterien, Algen, Sonnenlicht dazu - so sah für ihn die erneuerbare Energie der Zukunft aus. Der Forscher reiste in den Erg Chebbi, die große Sandwüste im Süden Marokkos, wo er einen Bakterienstamm namens Meski mit Hilfe ergiebiger UV-Strahlen zu Höchstleistungen antreiben wollte.
Der Professor parkte seinen VW-Bus in einem Tal zwischen zwei Dünen und begann unter sengender Sonne mit der "photobiologischen Wasserstofferzeugung". Die Kunde vom blonden Kauz und seinen sonderbaren Apparaturen machte schnell die Runde unter den Nomadenfamilien, und Rechenberg bekam bald Besuch. Als Gastgeschenk brachten ihm die Nachbarn einen Fisch, den sie angeblich in der Wüste gefangen hatten. Einen Fisch? Aber da setzt der Ziegenhirte die Eidechse, die er in den Händen hält, schon in den Sand. Kopf voran taucht sie in den Untergrund und schlängelt blitzschnell davon.
Die kleine Echse ging Ingo Rechenberg nicht mehr aus dem Sinn, und ein Bioniker denkt in anderen Kategorien als wir normalen Sterblichen, denen vielleicht noch die schöne Zeichnung der Schuppen im Gedächtnis geblieben wäre oder die Geschwindigkeit, mit der die Eidechse im Sand verschwand. Rechenberg überlegte nur: Wie schafft es dieser Winzling, die Reibung im Sand so zu minimieren, dass er darin schwimmen kann wie ein Fisch im Wasser?
Bezeichnenderweise heißt die Echse im Deutschen tatsächlich Sandfisch. Früher war sie auch als Apothekerskink - lateinisch Scincus scincus - bekannt, und in der Arzneimittellehre des Dioskurides aus dem ersten Jahrhundert nach Christus ist über das "eigenartige Landkrokodil" nachzulesen, dass die "die Nieren umgebenden Teile, ... in der Gabe von einer Drachme mit Wein genommen, die Kraft haben, das Verlangen nach Liebesgenuss mächtig anzuregen".
Der einschlägigen Literatur kann man außerdem entnehmen, dass der Sandfisch vorzugsweise Heuschrecken vertilgt, aber auch Mehlwürmer oder Skorpione nicht verschmäht. Er liegt unter dem Sand neben einer Pflanze versteckt und wartet geduldig auf seine Opfer. Für den Tauchgang im Sand, schreiben die Zoologen, sei die spatenförmige Schnauze bestens geeignet, als Antrieb diene der kurze kräftige Schwanz, und die Beine ließen sich eng am Körper anlegen. Reicht das als Erklärung der sagenhaften Schwimmtechnik? Einem Bioniker nicht.
Im Sommer 2000 kehrt Rechenberg mit einem selbst konstruierten Gleitreibungsmesser in den Erg Chebbi zurück. Wie würden Sandfischschuppen im Vergleich mit den glattesten Oberflächen abschneiden, die der Mensch produziert?
Bei Teflon, Nylon, Glas und poliertem Edelstahl hatte der Professor im Labor den Reibungswiderstand gemessen - mit einem Verfahren, dass sich ohne großen Aufwand in seinem VW-Bus wiederholen ließ: Aus einer Glaskanüle lässt er feinen Sand senkrecht auf einen Objektträger fließen, dessen Neigung verstellbar ist.
Bei steilem Winkel gleitet der Sand weiter, bei wenig Neigung bleibt er liegen. Der Winkel, bei dem er gerade aufhört zu rutschen, ergibt die Reibungszahl. Von den technischen Oberflächen lässt polierter Stahl den Sand am längsten glitschen. Erst bei 26 Grad bleibt der Sand liegen.
Auch die Schuppen des betäubten Wüstenfischs glänzen wie poliert. Der Sand fließt und rutscht - und gerät erst bei einem Winkel von 20 Grad ins Stocken. Die Eidechse schlägt Stahl und Glas und Teflon - Biologie überflügelt Technologie! Für den Bioniker war das im Prinzip schon vorher klar. "Unter extremen Bedingungen muss die Evolution besonders hart arbeiten, um energiesparende Lösungen zu finden." Viel extremer als die Sandwüste kann ein Lebensraum nicht sein.
Rechenberg misst tagsüber im Schatten 43 bis 46 Grad Celsius, in der Sonne ist es überhaupt nicht auszuhalten. Deshalb taucht der Sandfisch nur morgens gegen 8 Uhr für kurze Zeit aus dem Sand auf. Zwei Stunden lang macht er Jagd auf Insekten, und bevor es zu heiß wird, schlängelt er wieder in seine sandige Unterwelt, wo es nie wärmer als 25 Grad wird.
Experiment Nummer zwei. Der blanke Scincus scincus lebt in einer Welt, die rau ist wie Sandpapier, und zeigt trotzdem nie auch nur den Hauch eines Kratzers. Rechenberg prüft die Verschleißfestigkeit der Schuppen, indem er mit einem Trichter aus 30 Zentimeter Höhe Sand darauf rieseln lässt - kontinuierlich, zehn Stunden lang. Der Professor sucht mit bloßem Auge, er sucht mit der Lupe. "Nichts, keine Spur von Abrieb. Null."
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Die Referenzmaterialien hingegen sehen nach zehn Stunden im Sandstrahl richtig alt aus: "Deutlicher Abriebfleck zu erkennen", notiert Rechenberg. Aber wie können die Schuppen des Sandfischs, die aus demselben Keratin bestehen wie unsere Fingernägel, derart widerstandsfähig sein?
Der Bioniker ist überzeugt, dass die Natur nach demselben Prinzip harte Oberflächen schafft wie die Materialwissenschaftler von heute, die Werkstoffe mit einer ultradünnen Lage Kristalle beschichten. "Wenn in das Keratin winzigste Minerale eingelagert sind, etwa Silizium-oder Kalziumkristalle, dann ergibt das eine enorme Abriebfestigkeit."
Bis jetzt hat er die Schuppen der Sandfische noch nicht mit einem Mikroskop untersuchen können, das Kristalle im Bereich von wenigen Nanometern - Milliardstelmetern - darstellen kann, aber für Rechenberg ist die Frage nicht mehr, ob die Haut der Sandfische so beschaffen ist, sondern "wie die Evolution solcherart Material in eine optimale Struktur gebracht hat".
Denn selbst wenn es den Pionieren der Nanotechnologie inzwischen mit großem technischen Aufwand gelingen mag, einzelne Atome zu schichten - so elegant weil reibungsarm wie der Sandfisch sind technische Oberflächen eben noch lange nicht. Wo also liegt das Geheimnis der schnellen Schuppe?
Als er das letzte Mal im Erg Chebbi kampierte, stieß der Professor per Zufall auf eine weitere rätselhafte Eigenschaft des Skinks, die vielleicht zur Lösung führt. Rechenberg hatte ein Tier, das er für tot hielt, über Nacht in einem mit Sand gefüllten Plastikeimer liegen lassen. "Als ich am nächsten Morgen in den Eimer griff, bekam ich einen gewischt - ein richtig kräftiger elektrischer Schlag von dem Sandfisch."
Der Wind hatte Sand im Eimer rotieren lassen, und durch die Reibung hatte sich der Inhalt elektrisch aufgeladen. Der Sandfisch war offenbar in der Lage, diese Ladung wieder abzugeben. "Das macht auch Sinn", erklärt der Bioniker. "Elektrische Ladung entsteht durch Reibung, und der Sandfisch ist ja den ganzen Tag der Reibung im Sand ausgesetzt." Teflon etwa schneidet in den Rieselversuchen vergleichsweise schlecht ab, weil sich seine Oberfläche so stark auflädt, dass die Elektrizität den Sand haften lässt. Wie hat die Evolution das Problem gelöst?
Die Bioniker studieren die Haut des Sandfischs unter dem Mikroskop. Bei einer Vergrößerung, die einen Ausschnitt von 200 Mikrometern zeigt, erscheint eine gleichmäßige Rippenstruktur auf dem Bildschirm, die an das Muster erinnert, das Wellen am Strand hinterlassen. Bei 20 Mikrometern sind steile Grate zu erkennen, bei zwei Mikrometern türmen sie sich zu zackigen Bergkämmen auf.
"Das könnte doch", verkündet Ingo Rechenberg fröhlich, "eine Art Ladungsabstreifkämme sein." Der Sandfisch schwimmt oder läuft durch den Sand, seine kristallgehärteten Schuppen laden sich durch Reibung auf, und die mikrofeine Kammstruktur lässt die bremsende Elektrizität gleich wieder abblitzen. Ist damit die unglaubliche Leichtigkeit erklärt, mit der Scincus scincus durch den Sand flutscht? "Zumindest haben wir eine plausible These", findet Professor Rechenberg.
Wenn sich die wunderbare Schuppe des Wüstenfischs nur technisch reproduzieren ließe - was könnte man damit alles anfangen! Die wissenschaftliche Disziplin der Tribologie, die sich allein mit der Minimierung von Reibung befasst, würde jubeln über den neuen Stoff. Denn wo immer Mechanik in Bewegung ist, nimmt Reibung den Schwung und sorgt für Verschleiß. Die Evolution und ihr Sandfisch haben diesen Widerstand gebrochen; die neidvolle Anerkennung der Ingenieure ist ihnen gewiss.
Also widmet sich Rechenberg jetzt vermehrt der kleinen Echse. Aus der Erforschung der photobiologischen Wasserstofferzeugung hat sich Deutschland inzwischen sowieso verabschiedet, was einem angesichts der steigenden Energiepreise voreilig erscheinen mag. Der Professor jedenfalls fährt wie gehabt einmal im Jahr in die Sandwüste des Erg Chebbi - nun eben zum Fischefangen.