
Drift nach Osten: Die Alpen rutschen weg
Erdbeben im Gebirge Die Alpen rutschen nach Osten
Österreich war gewarnt. Hinweise hatte es genug gegeben: Da verschluckte eine Felsspalte im Waldviertel im 18. Jahrhundert angeblich eine Burg. In den 1940er Jahren soll ein Weingarten im Untergrund verschwunden sein; Risse durchzogen die Gemäuer vieler Häuser. Nachdem auch noch Gesteinsklüfte im Boden entdeckt wurden, stuften Experten das Wiener Becken schließlich als erdbebengefährdet ein.
Doch auch der Rest des Landes ist in Bewegung. In einer Höhle in der Obersteiermark haben Geologen nun Hinweise für Erdbeben entdeckt. Die Erschütterungen seien die Folge eines gigantischen Umbaus der Erdkruste: Geologische Kräfte schöben die Ostalpen unaufhaltsam Richtung Osten, berichten Geoforscher um Lukas Plan vom Naturhistorischen Museum in Wien im Fachblatt "Geology".
Die Alpen haben eine bewegte Vergangenheit. Das Gebirge bildet die Knautschzone eines gewaltigen Zusammenstoßes, der vor Jahrmillionen begann: Von Süden her schiebt die Afrikanische Erdplatte Italien wie einen Sporn in den europäischen Kontinent hinein. Dabei falteten sich die Alpen auf.
Einen besonderen Einblick in die Eingeweide der Erde bietet das gewaltige Tauernfenster, ein 160 Kilometer langer und 30 Kilometer breiter Gebirgszug zwischen Brenner und Katschberg. Das Gestein des Tauernfensters stammt aus 30 Kilometern Tiefe. Bei der interkontinentalen Kollision wurde es wie Knetmasse nach oben gepresst.
Der Berg machte einen Ruck
Inzwischen jedoch schiebt sich das Tauernfenster offenbar vor allem in Richtung Osten. Das schließen Geoforscher aus der Analyse von Schallwellen, die sie durch den Untergrund geschickt haben. Vergleichbar mir Ultraschalluntersuchungen beim Arzt liefern die Wellen ein Bild vom Inneren der Erdkruste. Das Tauernfenster versetzt demnach Berge: Es hat den Gurktal-Block bereits 160 Kilometer vor sich hergeschoben. Die Gebiete um das heutige Klagenfurt und Bozen - einst benachbart - liegen heute mehrere Autostunden auseinander.
Nun meinen Geologen auch an der Erdoberfläche einen Beweis für die Ostdrift der österreichischen Alpen gefunden zu haben. Geologen um Lukas Plan hatten sich tief in eine Kalksteinhöhle im Hochschwab-Gebirge in der Steiermark abgeseilt. Dort entdeckten sie markante Kratzer, die waagerecht an einer Felswand entlanglaufen.
"Die Kratzer befinden sich an einer engen Stelle der Höhle in knapp zwei Meter Höhe", sagt Bernhard Grasemann von der Universität Wien. Dort klemmen Felsbrocken fest wie Kieselsteine in einem Flaschenhals. Die Kratzer beweisen: "Manche Brocken müssen mit großer Gewalt horizontal an der Felswand entlanggeschrammt sein", sagt Grasemann. Freier Fall würde senkrechte Spuren erzeugen - folglich kämen nur Erdbeben als Verursacher der Kratzer in Frage. Offenbar habe sich einst die ganze Felswand um einen Viertelmeter verschoben - dabei sei sie von festsitzenden Felsbrocken zerschrammt worden, schreiben die Forscher.
Die Kratzer entstanden, bevor Menschen in der Region lebten. Eine atomare Uhr im Gestein verriet den Geologen das Alter der Spuren: Wie der Sand in einer Sanduhr gleichmäßig rieselt, so zerfallen radioaktive Substanzen im Gestein mit unveränderlicher Geschwindigkeit und erlauben somit eine Altersbestimmung. Die Kalkablagerungen auf den Kratzern sind den Datierungen zufolge etwa 9000 Jahre alt, der zerkratzte Kalk hingegen etwa 118.000 Jahre. Im Zeitraum dazwischen seien die Kratzer entstanden, folgern die Forscher.
Trümmer auf dem Höhlenboden
Am Boden der Höhle entdeckten sie weitere Spuren, die auf Erdbeben hinwiesen: Dort lagen zerbrochene Tropfsteine. Sie entstehen, wenn kalkiges Wasser von der Höhlendecke rinnt. Mit ihrer Datierungsmethode konnten die Forscher das Ergebnis der Kratzer-Datierung bestätigen: Der Kalk über den Bruchstellen der Tropfsteine war demnach 9000 Jahre alt, der alte Kalk 118.000 Jahre. In der Zeit dazwischen mussten die Tropfsteine von der Decke gestürzt sein. Damals herrschte Eiszeit; das Wasser war gefroren, so dass die Tropfsteine nicht wuchsen.
"Offenbar handelt es sich um Erdbebentrümmer", folgert Grasemann. Für diese These spricht auch der Blick auf die geologische Karte: Die Höhle liegt direkt auf einer Hunderte Kilometer langen Gesteinsnaht, die Österreich von West nach Ost durchzieht. Wie häufig in den Ostalpen mit stärkeren Beben zu rechnen ist, sei "vollkommen unklar", sagt Grasemann. Vermutlich passiere es selten. Die Studie liefere lediglich den ersten Hinweis auf ein starkes Beben aus den vergangenen Jahrtausenden.
Doch die Region ist in Bewegung. Das beweisen GPS-Satellitendaten sowie ein schwaches Zittern der Erde. Empfindliche Messgeräte registrieren unter den Ostalpen ein stetes Rumoren in Dutzenden Kilometer Tiefe: Entlang der Gesteinsnähte verschiebe sich das Gebirge mit anderthalb Millimeter pro Jahr in Richtung Osten, sagt Grasemann. Ein Großteil Österreichs bewegt sich also unaufhaltsam Richtung Ungarn.