Erdbeben in Virginia Ächzen der Urzeit lässt Amerikas Ostküste wackeln
Hamburg - Der Erdbebenforscher Brian Romans an der Universität Virginia Tech fühlte sich sicher in seinem Büro. Zwar wusste er, dass der Boden in der Gegend hin und wieder zittert - einen so starken Ruck jedoch hatte er nicht erwartet. Kein Wunder, denn seit Menschengedenken hatte es in Virginia kein derart starkes Beben wie am Dienstag gegeben (das Minutenprotokoll lesen Sie hier, über die Folgen lesen Sie hier). Das Beben der Stärke 5,8 war in 22 Bundesstaaten der USA zu spüren. "Ich habe nicht erwartet, dass diese Gegend so stark wackelt", staunt Romans.
Der Osten der USA ist eine besonders unheimliche Region, wenn es um Erdbeben geht: Die Gegend scheint eigentlich sicher, sie liegt weit abseits von Erdplattengrenzen, an denen sich normalerweise tektonische Spannung entlädt: Fast alle Erdbeben ereignen sich an den Grenzen von Erdplatten, jener kontinentgroßen Gesteinsschollen, deren Zusammenstoß Gebirge auffaltet und Vulkane gebiert. Im Westen der USA in Kalifornien etwa zeugen Tausende Verwerfungen im Untergrund - wie etwa die San-Andreas-Verwerfung - davon, dass dort die Pazifische und die Nordamerikanische Erdplatte aneinander vorbeischrammen; die Spalten künden vom regelmäßigen Zerreißen des Untergrunds.

Erdbeben an der Ostküste der USA: Nervenrütteln am Nachmittag
Anders an der Ostküste: An der Erdoberfläche weist nichts auf die seltene Gefahr im Untergrund hin. Seit mehr als 200 Millionen Jahren herrscht in Virginia geologische Ruhe - keine Erdplatten sind dort seither zusammengestoßen. Erst das regelmäßige schwache Zittern des Bodens - Erdbeben der Stärke zwei bis vier alle paar Jahre - brachte Geologen auf die Idee, dass auch dieser Teil der USA von Brüche durchzogen sein konnte. Außerdem hatte es im Osten der USA alle paar Jahrzehnte sogar Starkbeben gegeben - sogenannte Intraplattenbeben -, für die es keine Erklärung gab.
Spuren aus Europa im Boden
Und tatsächlich entdeckten Forscher Gesteinsschollen in der Tiefe, die entlang kilometertiefer Nahtzonen von Südwest nach Nordost aneinander vorbeischrammen. Es sind die ehemaligen Grenznähte von Europa und den USA, die einst vereint waren, bevor vulkanische Urkräfte den Großkontinent Pangäa auseinanderrissen - Urzeitwesen konnten zu Fuß von einem Kontinent zum anderen spazieren. Im Untergrund von Virginia finden sich Spuren von Europa, er besteht teilweise aus dem gleichen Gestein wie Nordwesteuropa.
Die Verwerfungen im Untergrund von Virginia entstanden in geologischer Urzeit vor Hunderten von Millionen Jahren, als die Urkontinente im Osten der USA zusammenstießen: Bei einer geologischen Massenkarambolage schob sich im Erdaltertum ein Kleinkontinent nach dem anderen in die Knautschzone. Die Felsen wurden unter dem Druck aufliegender Gesteinspakete verformt.
Wenn es heutzutage in der Region bebt , ist das gleichsam das Echo der Urzeit, das Ächzen der alten Erdschollen: Der heutige Erdboden in Virginia lag im Erdaltertum in zehn bis 30 Kilometer Tiefe; Wind und Regen haben das darüberliegende Gestein im Laufe der Jahrmillionen weggewaschen. Doch das Knautschen und Heben der Felspakete hat das Gestein unter Spannung gesetzt, es ruckelt bisweilen - manchmal so kräftig wie bei dem historischen Beben am Dienstag. Allerdings sind solche Schläge selten, denn die Felspakete bewegen sich äußerst langsam entlang der unterirdischen Nahtzonen.
New York in Gefahr
Die urzeitlichen Gesteine im Untergrund von Virginia sorgen zudem dafür, dass Beben an der Ostküste in ungewöhnlich großer Entfernung zu spüren sind. Sie breiteten sich zehnmal weiter aus als Beben an der Westküste der USA. Das alte Gestein im Osten wurde unter dem Druck darüber liegender Gesteinsmassen einst so stark zusammengequetscht, dass Erdbeben es nun ungehindert durchlaufen können - ähnlich wie Lichtwellen ein Glasfaserkabel. Im Westen der USA hingegen bremsen Sand und Tausende Verwerfungen die Wellen.
Das Erdbeben am Dienstag hat selbst Experten überrascht, gleichwohl hatten Studien bereits vor der Gefahr durch seltene Starkbeben im Osten der USA gewarnt. Vor drei Jahren etwa zeigten Forscher der Columbia University in Palisades (US-Bundesstaat New York) , dass das Kernkraftwerk Indian Point, knapp 40 Kilometer nördlich von New York City, durch Starkbeben bedroht sei; es liege nahe zweier alter Nahtzonen. Die Stadt wurde den Forschern zufolge in den Jahren 1737, 1783 und 1884 von Beben erschüttert, die heftiger waren als Stärke 5. Das Beben vom Dienstag in Virgina, betont der Geologische Dienst der USA (USGS), müsse eine Warnung sein, Gebäude auch im Osten des Landes widerstandsfähig zu bauen. Denn jederzeit könnte die alte Erdkruste wieder ächzen - und den Boden wackeln lassen.
Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die Hiroshima-Atombombe habe eine Sprengkraft von 50 Millionen Kilogramm TNT besessen. Der richtige Wert beträgt allerdings 15 Millionen Kilogramm bzw. 15 Kilotonnen TNT. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.