Erdbebenforschung Kalifornien wartet auf den Big Bang
Als Wladimir Keilis-Borok im Frühjahr vergangenen Jahres seine Warnung veröffentlichte, reagierte Kalifornien mit tiefer Beunruhigung. Am 5. September 2004, prophezeite der gebürtige Russe, werde ein Erdbeben der Stärke 6,4 das südliche Kalifornien erschüttern.
Die Liste der Scharlatane, die Ähnliches behauptet haben, ist zwar lang - doch Keilis-Borok, Professor an der University of California in Los Angeles, hat nicht nur den Ruf eines seriösen Geologen. Er hatte auch kurz zuvor zwei starke Erdbeben erfolgreich prognostiziert: eines im Dezember 2003 in Zentralkalifornien und eines auf der japanischen Insel Hokkaido im September 2003. Das kalifornische Beben hatte eine Stärke von 6,5; in Japan bebte die Erde gar mit einer Magnitude von 8,1.
Diesmal aber hatte sich der Altmeister der Erdbebenforschung getäuscht: Kalifornien erlebte einen friedlichen 5. September 2004. Und jetzt könnte der 83-Jährige vor einem weiteren Irrtum stehen: Anfang dieses Jahres hat er erneut ein schweres Erdbeben in Südkalifornien vorhergesagt. Am 14. August sollte es mit einer Stärke von mindestens 7,5 auf der Richterskala krachen.
"Vorhersage ist immer ein Experiment"
"Es ist immer noch möglich, dass das Beben in den nächsten Tagen kommt", sagte der gebürtige Russe im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Manchmal verfehlt man das Datum nur knapp. Aber wenn bis Anfang September nichts geschieht, lagen wir eindeutig falsch." In diesem Fall müsse er seine Formeln überprüfen. "Die Vorhersage", seufzt der Geologe, "ist immer ein Experiment."
Seit Jahrzehnten tüftelt Keilis-Borok an seinem Algorithmus zur Prognose verheerender Erdstöße. Das komplexe Rechenwerk soll ermöglichen, anhand sogenannter Mikrobeben Katastrophen vorherzusagen. Kommt es entlang einer Verwerfung wie etwa des kalifornischen San-Andreas-Grabens zu einer Häufung kleiner Erdstöße, so die Theorie, kann das Rückschlüsse auf ein baldiges großes Beben erlauben.
Noch vor wenigen Jahren hätte Keilis-Borok seinen wissenschaftlichen Ruf gründlich ruiniert, wenn er das "P-Wort" bloß in den Mund genommen hätte. Mittlerweile aber ist die Prognose von Erdbeben unter Geologen wieder zu einem weniger tabuisierten Thema geworden, was vor allem Keilis-Borok zugeschrieben wird - auch wenn längst nicht alle Forscher mit dem Vorgehen des 83-Jährigen einverstanden sind.
Prognose-Tabu bröckelt
Zwar sind die Vorhersagen noch immer viel zu ungenau, um an die gezielte Evakuierung von Städten auch nur zu denken. "Aber ich sehe keinen Grund, warum derart zuverlässige Prognosen nicht eines Tages möglich sein sollten", sagt Keilis-Borok. Und eine zunehmende Zahl von Forschern teilt diese Meinung.
Bisher ist die Statistik das einzige halbwegs zuverlässige Instrument zur Erdbebenprognose: Anhand der zeitlichen Abstände von Erdstößen entlang der Bruchzonen in der Erdkruste lässt sich ungefähr abschätzen, wann und wo ein Beben auftritt. Doch selbst hier sind sich die Forscher nicht immer einig, wie am Beispiel Kaliforniens deutlich wird. Manche Wissenschaftler glauben, dass sich die Erde hier alle 100 bis 150 Jahre heftig schüttelt. Da sich das letzte schwere Beben in Kalifornien 1857 ereignete, stünde der Sonnenstaat demnach kurz vor der nächsten Katastrophe.
Doch ein Team des US Geological Survey (USGS), des geologischen Dienstes der USA, ist erst im Mai dieses Jahres zu einem anderen Ergebnis gekommen: Die Forscher um Tom Fumal haben die Sedimente entlang der San-Andreas-Verwerfung auf Zeichen für schwere Erdstöße untersucht. Das Ergebnis: Die Ruhepausen zwischen großen Erdbeben betragen bis zu 200 Jahre. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Kalifornien innerhalb der nächsten 30 Jahre zu einem schweren Beben kommt, taxierten Fumal und seine Kollegen auf lediglich 20 bis 70 Prozent.
Noch in den siebziger Jahren waren die Wissenschaftler voller Enthusiasmus in Sachen Erdbebenprognose. Erst wenige Jahre zuvor hatte man entdeckt, dass die Erdkruste aus beweglichen tektonischen Platten besteht. Genaue Erdbeben-Warnungen schienen nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
Kleine Schritte statt sensationeller Fortschritte: Wie Geologen mit Hightech-Geräten Katastrophen entschärfen wollen
Doch bis heute gelangen nur seltene Glückstreffer. In China etwa ließ die Regierung im Februar 1975 die Industriestadt Haicheng evakuieren, nachdem die Erde mehrfach rumort und die Tiere auffälliges Verhalten gezeigt hatten. Zwei Tage später zerstörte ein Beben der Stärke 7,3 die entvölkerte Stadt.
Nur ein Jahr später folgte dem Erfolg die tragische Ernüchterung: Ein Erdbeben der Stärke 7,8 traf die Stadt Tangshan und tötete bis zu 650.000 Menschen. Niemand hatte die Katastrophe kommen sehen. In den Jahren 1994 und 1995 mussten die Geologen dann einen Doppelschlag hinnehmen: Erst bebte es in Kalifornien, dann im japanischen Kobe. Trotz Hightech-Forschung in beiden Ländern hatte niemand etwas geahnt.
Unter Geologen setzte sich die Meinung durch, dass eine Prognose von Erdbeben erst in vielen Jahren oder auch nie möglich sein werde. Regenfälle, steigender Grundwasserspiegel, seismische Wellen, Deformationen des Erdbodens, das Auftreten des Edelgases Radon, geoelektrische Spannung, Wolkenbildung, Tierverhalten - viele einzelne Faktoren scheinen mit Erdbeben zusammenzuhängen, aber niemand kann sie bisher zu einem sinnvollen Ganzen verbinden.
Deshalb konzentrieren sich die derzeitigen Bemühungen weniger auf den "heiligen Gral" der Bebenforschung - die präzise Vorhersage von Zeit, Ort und Magnitude - als vielmehr auf Schadensbegrenzung. Einen ersten Erfolg eines Frühwarnsystems meldeten erst vor wenigen Tagen die japanischen Behörden, nachdem ein Beben der Stärke 7,2 die nordjapanische Stadt Sendai erschüttert und dutzende Menschen verletzt hatte.
Erste Erfolge mit Frühwarnsystem
14 Sekunden zuvor erhielt eine Grundschule eine Warnung von dem experimentellen System. Die Sensoren registrierten die Primärwellen des Bebens, die sich üblicherweise mit rund sieben Kilometern pro Sekunde ausbreiten. Sie laufen den sogenannten S-Wellen voraus, die nur mit vier Kilometern pro Sekunde unterwegs sind und die größten Schäden an Gebäuden anrichten können.
Je weiter das Epizentrum eines Bebens entfernt ist, desto größer ist die Vorwarnzeit. Für Tokio etwa rechnen japanische Experten mit einer Vorwarnzeit von rund 40 Sekunden, sollte das gefürchtete große Beben kommen, dessen Epizentrum vermutlich im Pazifik südöstlich von Tokio läge.
Im März war das Frühwarnsystem in Sendai installiert worden, Tokio besitzt es bereits seit 2004. Auch in Taiwan und Mexico City ist ein solches System installiert, Kalifornien will möglicherweise nachziehen.
In Kalifornien arbeiten Geologen derweil weiterhin daran, ihre Vorhersagemodelle immer weiter zu verfeinern. Neben Keilis-Borok machten auch John Rundle und Kristy Tiampo von sich reden. Mit ihrer statistischen Methode identifizierten sie sogenannte Hot Spots, an denen künftige Beben wahrscheinlich auftreten werden. In Kalifornien haben sie auf diese Weise die Orte von 15 der 16 stärksten Erdbeben der vergangenen vier Jahre präzise vorhergesagt.
Schweres Beben würde nicht überraschen
Allerdings hapert es noch an der zeitlichen Treffsicherheit: "Derzeit können wir den Zeitpunkt von Erdbeben nur auf zehn Jahre genau vorhersagen", erklärte Rundle gegenüber SPIEGEL ONLINE. Allerdings seien seinem Team zuletzt "beträchtliche Fortschritte" gelungen. Details wolle er aber erst in einem Fachartikel verraten, der "in naher Zukunft" erscheinen soll.
Keilis-Boroks aktuelle Warnung vor einem Beben der Stärke 7,5 oder mehr hält Rundle für plausibel. "Wir wären alles andere als überrascht, wenn ein so großes Beben einträte", so Rundle. "Aber wir würden es in der Nähe eines unserer Hot Spots erwarten."
Sollten die Wissenschaftler eines Tages tatsächlich in der Lage sein, Erdbeben mit einer Genauigkeit von Wochen oder gar Tagen vorherzusagen, stellt sich bereits die nächste Frage: Was tun mit derart brisanten Daten? Würde eine Panik womöglich mehr Opfer fordern als das Beben selbst? Wir groß wäre der wirtschaftliche Schaden eines Fehlalarms? Und: Würden die Menschen nach solchen Pannen die Warnungen noch ernst nehmen?
Öffentliche Verwirrung
Wie unsicher die Behörden selbst sind, zeigt das Verhalten des California Earthquake Prediction Evaluation Council, das den Gouverneur des Staates - in diesem Fall Arnold Schwarzenegger - berät. Eine eingehende Prüfung habe ergeben, dass Keilis-Boroks Methode "seriös" sei, hieß es in einer Mitteilung. Zugleich aber befand das Gremium, dass sofortiges Handeln nicht notwendig sei.
Das Resultat war öffentliche Verwirrung. Die Tatsache, dass Keilis-Borok bei seiner Warnung für den September 2004 zugleich betonte, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent nicht zu einem Beben kommt, gelangte nie an die Öffentlichkeit, sagte Mark Benthien vom Southern California Earthquake Center.
Als der 5. September 2004 ohne Erdbeben verstrich, hätten viele Menschen geglaubt, die Katastrophe verspäte sich. Andere seien zu Hamsterkäufen in die Supermärkte aufgebrochen. Und am 6. September 2004 habe jemand angerufen und gefragt, ob man wieder die Bilder an die Wand hängen könne.