
Pakistan: Experten befürchten Flutkatastrophe
Erdrutsch in Pakistan Experten fürchten riesige Flutwelle durch Dammbruch
Als sich die Erde in Bewegung setzte, waren die Bewohner von Attabad gewarnt. Das Dorf, das sich 400 Meter über dem Fluss Hunza an einen Berghang schmiegte, wurde nahezu vollständig ausgelöscht, als sich eben jener Berghang in Richtung Tal aufmachte. Experten hatten das Unglück kommen sehen und die Bewohner rechtzeitig gewarnt - die Häuser waren leer. Weiter unten aber hatten die Menschen weniger Glück: 13 starben, als die geschätzten 30 Millionen Kubikmeter Gestein am 4. Januar talwärts stürzten. Weitere sieben fielen dem Hunza zum Opfer, der durch die Erdmassen blockiert wurde, zu einem riesigen Stausee angeschwollen ist und begonnen hat, die Dörfer der Umgebung zu verschlucken. 6000 Menschen haben bisher ihr Zuhause verloren.
Experten glauben, dass das erst der Anfang ist. Sie befürchten, dass der inzwischen fast 20 Kilometer lange und rund 100 Meter tiefe See die natürliche Sperre in den nächsten Tagen überwinden wird. Die Folge könnte eine bis zu 60 Meter hohe Flutwelle sein, die sich Hunderte Kilometer weit stromabwärts wälzt und alles mitreißt, was ihr im Weg steht.
Durch Regenfälle und Schmelzwasser aus umliegenden Gletschern hat der See inzwischen fast die rund 110 Meter hohe Krone des natürlichen Damms erreicht. Die deutschen Geoinformationsfirmen Infoterra und Geomer haben im Rahmen des EU-Projekts "Safer" (Services and Applications for Emergency Response) per Computer berechnet, was dann geschehen könnte. Im schlimmsten Fall - dem eines plötzlichen und massiven Dammbruchs - würde eine Flutwelle von 40 Metern, stellenweise sogar 60 Metern stromabwärts schießen.
Abflussrinne soll Damm entlasten
Die pakistanische Armee kämpft verzweifelt gegen die drohende Katastrophe. Tausende Menschen wurden bereits aus der Gefahrenzone gebracht, insgesamt sollen 50.000 Bewohner der Region ihre Häuser verlassen. Außerdem ließen die Behörden an der niedrigsten Stelle des Gerölldamms eine Rinne graben, um das Wasser möglichst kontrolliert ablaufen zu lassen - und so den Druck auf den Damm zu verringern.
Sollte die Maßnahme erfolgreich sein, könnte sie den Bruch des Damms verzögern und den Behörden wertvolle Tage schenken, um die Menschen stromabwärts in Sicherheit zu bringen. Die Fachleute von Infoterra und Geomer hatten berechnet, dass der See den Damm am Pfingstmontag überspülen und ihn brechen lassen könnte. "Allerdings war eine Abflussrinne in diesen Berechnungen noch nicht berücksichtigt", sagt Infoterra-Mitarbeiter Marc Müller.
Die Frage ist, ob der künstliche Kanal die Katastrophe verhindern kann. Dave Petley von der britischen University of Durham, der im Februar und März die Lage vor Ort untersucht hat, hält einen plötzlichen Kollaps des Damms zwar für weniger wahrscheinlich. Dennoch glaubt der Geologe nicht, dass der Wall noch lange stehen wird.
"Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass er langsam weggespült wird", sagt Petley, Gründer und Direktor des International Landslide Centre. Das Wasser reiße auf seinem Weg durch den Abflusskanal Sedimente mit sich und vergrößere ihn - so dass noch mehr Wasser durchfließe, was den Kanal wiederum noch schneller wachsen lasse. "Alles hängt davon ab, wie stark diese Rückkopplung ausfällt", sagt Petley im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Je schneller die Rinne erodiere, desto größer und zerstörerischer werde die Flutwelle.
Vorhersagen lasse sich der zeitliche Verlauf nicht. Doch aufgrund der Gegebenheiten vor Ort ist Petley besorgt. Es sei beispielsweise Standard, den Boden der Rinne besonders zu schützen, um die Erosion zu verringern. Das aber sei am Hunza nicht geschehen. Auch betrage die Breite der Rinne nur 10 bis 20 anstatt der empfohlenen 40 Meter. "Je schmaler die Rinne ist, desto schneller schießt das Wasser hindurch", sagt Petley. Da der Boden des Kanals nicht geschützt sei, stehe zu befürchten, dass die Erosion relativ schnell fortschreite, was die Gefahr einer zerstörerischen Welle erhöhe.
Ähnlicher Erdrutsch ereignete sich 1858
Wie die Folgen aussähen, verrät nicht nur die Computersimulation, sondern auch ein Blick in die Vergangenheit. Nur drei Kilometer weiter flussabwärts, bei einer Siedlung namens Salmanabad, hat sich laut Petley im Jahr 1858 ein ganz ähnlicher Erdrutsch ereignet. Auch damals sei der Hunza zu einem See angeschwollen, der sich dann schnell entleert habe. Das Ergebnis sei eine Welle gewesen, die noch 400 Kilometer flussabwärts - dort, wo sich heute die gewaltige Tarbela-Talsperre befindet - enorm hoch gewesen sei.
Allein in der Region Gilgit-Hunza wären heute in einem solchen Fall 39 Siedlungen mit rund 13.000 Bewohnern gefährdet. Auch die ohnehin schwach ausgeprägte Infrastruktur würde schweren Schaden nehmen: 17 Brücken könnten zerstört oder beschädigt werden. Zudem hat der See inzwischen einen 22 Kilometer langen Abschnitt des Karakorum Highway, der wichtigsten Verkehrsverbindung der Region, unter Wasser gesetzt.
Der Tarbela-Damm, mit einer Höhe von 140 Metern und einer Länge von fast drei Kilometern einer der größten der Welt, ist laut Petley zwar groß genug, um eine große Flutwelle unbeschadet zu überstehen. Doch was sich zwischen ihm und dem aktuellen Erdrutsch befinde, sei hochgradig gefährdet. "Alle Menschen, die innerhalb einer Höhe von 60 Metern über dem derzeitigen Pegel des Flusses leben, sollten sich in Sicherheit bringen."
Offen ist, ob das schnell genug geschehen wird. Inzwischen wird heftige Kritik an der Regierung laut: Sie habe zu langsam reagiert und die Situation gefährlich eskalieren lassen. Am Freitag etwa besuchte Premierminister Yousuf Raza Gilani das Dorf Altit, wo rund 1300 obdachlose Menschen untergebracht worden waren. Kaum war der Regierungschef wieder verschwunden, skandierten Hunderte Dorfbewohner regierungskritische Parolen und forderten Entschädigungen.