
Pakistan: Erdrutsch verwandelt Fluss in See
Erdrutsch in Pakistan Tausende Menschen flüchten vor drohender Bergsee-Flut
Ein Grollen ist zu hören, in mehreren hundert Metern Entfernung steigt eine Staubwolke auf. Der Mann, der die Kamera hält und den Erdrutsch im pakistanischen Distrikt Hunza filmt, zittert. Die Aufnahme ist verwackelt. "Mein Gott", sagt der Mann, dessen Filmmaterial pakistanische Fernsehsender veröffentlichen.
Nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit droht im Norden Pakistans, etwa hundert Kilometer von der Grenze zu China entfernt, eine humanitäre Katastrophe: Ein Bergsee, erst Anfang des Jahres durch einen Erdrutsch entstanden, nimmt durch Schmelzwasser, tagelangen Regen und neue Erdbewegungen immer größere Ausmaße an. Inzwischen überflutet er umliegende Dörfer und Städte. Auch stromabwärts wächst die Gefahr: Der natürliche Damm bröckelt. 36 Dörfer sind von einer potentiell verheerenden Flutwelle bedroht.
Etwa 50.000 Menschen sollen nun in einer Eilaktion umgesiedelt werden. Seit Montagabend sind Helfer im Einsatz, um die Bewohner der Region zu informieren. Soldaten fahren mit Geländewagen von Haus zu Haus, auch über die Lautsprecheranlagen der Moscheen werden die Menschen aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen. Mehrere Videos bei YouTube zeigen, wie Häuser dem Wasser zum Opfer fallen - oder von den Bewohnern abgerissen werden, um wenigstens das Baumaterial zu retten. "Ich glaube nicht, dass ich mein Haus wiedersehe", sagt ein Mann.
Umsiedlung hat begonnen
"Wir haben am Montag mit der Evakuierung begonnen und werden damit in den kommenden Tagen weitermachen", erklärt der Armeeoffizier Amer Siddique, zuständig für den Katastrophenschutz. Notfalls werde man die Menschen zwingen, ihre Häuser zu verlassen. Bis Donnerstag werde sich niemand mehr in den gefährdeten Dörfern aufhalten.
Boote versorgen die Menschen, die ihre Häuser bereits verlassen haben, mit Lebensmitteln, Zelten und Brennmaterial. Manche Umgesiedelte beschwerten sich gegenüber Journalisten, die Regierung kümmere sich nicht genügend um sie und spiele das Ausmaß der Katastrophe herunter.
Entstanden war der See, als am 4. Januar gigantische Geröllmassen in den Fluss Hunza stürzten und ihn auf ein beachtliches Maß anstauten. Damals wurden vier Dörfer unter den Erdmassen begraben, 20 Menschen starben, rund 6000 verloren ihre Häuser. Der Fluss wuchs zu einem See von 16 Kilometern Länge an, auf zwei Kilometern wurde auch der Karakorum Highway blockiert. Der Grenzverkehr zwischen Pakistan und China kam an dieser Stelle zum Erliegen. Tausende Menschen waren zeitweise von der Außenwelt abgeschnitten.
"Wir haben versucht, aus der Situation das Beste zu machen", sagt Shakeel Hussain, ein Dorfbewohner aus der Region. "Wir dachten, wenn schon Menschen sterben mussten und so viele ihr Zuhause verloren haben, dann wollen wir aus dem See wenigstens eine Touristenattraktion machen." Der See liegt nicht nur an der Hauptverkehrsader zwischen Pakistan und China, sondern auch in einer einst bei Reisenden beliebten Region. Doch der Tourismus ist seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA und der Zunahme des Terrors in Pakistan nahezu gänzlich zusammengebrochen.
Offizier: Keine Gefahr für die gigantische Tarbela-Talsperre
Jetzt bleiben auch die einheimischen Besucher aus, da das Katastrophengebiet nicht zur Ruhe kommt. Gleich nach dem Entstehen schwoll der Stausee zu bedrohlicher Größe an. Vergangene Woche stieg der Wasserpegel um etwa einen Meter pro Tag. Ingenieure und Armee versuchten, ein kontrollierbares Abflusssystem zu bohren. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit: In den vergangenen Tagen hat es in der Region ununterbrochen geregnet. Außerdem hat das Tauwetter eingesetzt, Schmelzwasser aus den Gletschern der umliegenden Berge lässt den See weiter anschwellen.
Spätestens die Regenfälle im Juli dürften den natürlichen Staudamm zerbrechen lassen, teilten die Behörden mit. Bis dahin aber habe man vermutlich genügend Wasser aus dem See ablaufen lassen, um den Schaden zu begrenzen, sagte Generalleutnant Shahid Niaz. In aller Eile haben Bauarbeiter einen 24 Meter tiefen Abflusskanal gegraben. Die Regierung hat umgerechnet knapp sieben Millionen Euro für Rettungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt. "Wir hoffen, dass wir die ganz große Katastrophe noch verhindern konnten", sagte ein Regierungssprecher.
Niaz trat indes Befürchtungen entgegen, ein Kollaps des natürlichen Staudamms könne die Tarbela-Talsperre gefährden, die sich 400 Kilometer weiter stromabwärts befindet. Der gewaltige, mehr als 140 Meter hohe und fast drei Kilometer lange Damm gehört zu den größten der Welt. Niaz sagte, die Tarbela-Talsperre sei zu weit vom Erdrutsch am Hunza entfernt, um gefährdet zu sein.