
Chronologie einer Katastrophe: Erdlawine mit fatalen Folgen
Erdrutsch von Nachterstedt Geheimnisvolles Grollen vor dem Grauen
Balken des Dachstuhls ragen in den Himmel. In den Obergeschossen sind die Zwischenmauern herausgebrochen, das zerstörte Haus gibt den Blick in sein Inneres frei. Darunter stehen die Wände noch. Es sieht aus, als wäre das Gebäude mit einem gigantischen Messer leicht schräg durchgeschnitten worden.
Darunter, dort, wo früher Erdboden war, klafft immer noch wie eine tiefe Wunde das braune Loch, in dem im Morgengrauen des 18. Juli 2009 drei Menschen starben.
Das halbierte Hausgerippe von Nachterstedt ist immer noch da. Als wäre die Katastrophe am Concordia-See erst gestern passiert. Keine Frage - das Unglück, das sich an jenem Tag vor einem Jahr in Sachsen-Anhalt ereignete, ist längst nicht verwunden.
Auf 500 Meter Länge kam damals der Hang des Sees ins Rutschen. Nur Minuten später standen manche Gebiete von Nachterstedt, die zuvor 400 Meter vom Ufer entfernt lagen, an einem Abgrund. Ein Erdrutsch hatte den Menschen, die zu nahe am Wasser wohnten, den Boden unter den Füßen weggezogen. Ein Doppelhaus, eine Straße und Teile eines Familienhauses stürzten in den See; was von Letzterem übriggeblieben ist, lässt Katastrophentouristen noch heute erschaudern.
Die Folgen der Katastrophe sind noch heute zu spüren. 42 Anwohner haben an jenem Morgen ihr Zuhause verloren, viele Geschäfte liegen bis jetzt brach - die meisten Inhaber haben bisher vergeblich auf eine Entschädigung für den Einnahmeausfall gewartet. Das Unglück hat eines der größten Landschaftsbauprojekte Europas teilweise lahmgelegt, die Umwandlung der löchrigen Bergbauregion Sachsen-Anhalts in eine attraktive Seenlandschaft. Das Vorhaben wurde nach der Katastrophe unter Vorbehalt gestellt. Sogar in Nordrhein-Westfalen und Sachsen, wo ebenfalls Kohlegruben zu Seen umgebaut werden, fordern Politiker jetzt aus Sicherheitsgründen eine Revision der Pläne.
Experte: Das gesamte Gelände ist in Bewegung
Eigentlich sollten Experten bis Ende 2009 ein Gutachten zum Fall vorlegen, um das Risiko an den gefluteten Bergbaugruben besser abschätzen zu können. Doch dazu kam es nicht. Es werde vermutlich noch anderthalb Jahre dauern, bis die umfangreichen Erkundungen abgeschlossen sind, sagt Ingenieur Rolf Katzenbach von der Technischen Universität Darmstadt, der Leiter der Untersuchungen. Bergbauexperte Michael Clostermann, von der Landesregierung als Gutachter eingesetzt, erwartet, dass sich die Begutachtung der Unglücksstelle noch längere Zeit andauern werden, weil "das gesamte Gelände in Bewegung" sei. Nach wie vor sei zu befürchten, dass Erde nachrutsche. Wegen des instabilen Bodens hätten auch noch nicht alle Bohrungen zur weiteren Ermittlung der Unglücksursache beginnen können.
In der Region wächst das Misstrauen gegenüber den Behörden. In Lokalzeitungen argwöhnen Anwohner, die Ursachen des Erdrutsches sollten verschleiert werden. Manche fragen, ob die Behörden Warnzeichen ignoriert haben.
Hätte das Erdreich besser überwacht werden müssen?
War der Siedlungsbau auf Abraumhalden des Kohlebergbaus fahrlässig?
Hätte die Katastrophe verhindert werden können?
Die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV) hat jetzt die bisherigen Erkenntnisse zum Fall Nachterstedt vorgestellt - ihre Bilanz: "Es haben offenbar mehrere Einflussfaktoren gleichzeitig zusammengewirkt, aber in uns noch unbekannter Form und Art", sagte Vorstand Mahmut Kuyumcu auf einer Pressekonferenz.
Das hieß: Nichts Neues zur Ursache.
SPIEGEL ONLINE hat den Ablauf der Katastrophe rekonstruiert - anhand von Expertengutachten und anderen geologischen Dokumenten. Die wesentlichen Faktoren, die demnach zum Erdrutsch führten, machen klar, dass das Unglück nicht völlig überraschend kam - und dass es künftig bessere Vorkehrungen braucht. Die Vorgeschichte reicht mehr als hundert Jahre zurück:
- Durchlöcherter Untergrund
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gruben Bergleute in der Gegend von Nachterstedt, um Kohle aus dem Boden zu holen. Sie mussten mindestens 15 Meter tief graben. Wo die Stollen liegen, ist teils unbekannt. Viele sind voll Wasser gelaufen und wurden aufgegeben. Eine neue Grundwasserschicht ist entstanden, sie hat die ohnehin komplexen Grundwasserverhältnisse der Gegend verändert - das Grubenwasser strömt seither zwischen zwei natürlichen Grundwasserlagen. Der Druck des Grundwassers war es, der den Untergrund schließlich entscheidend destabilisieren sollte (siehe unten).
- Labiler Boden
Seit 1928 schütteten Arbeiter den Abraum der Kohlegewinnung zu Halden auf. Später wurden darauf Siedlungen errichtet - unter anderem Teile von Nachterstedt. Immer wieder offenbarten Rutschungen, wie schlecht es um die Stabilität des Bodens bestellt war. So stürzte am 2. Februar 1959 die doppelte Menge Erde zu Tal wie bei der Katastrophe im vergangenen Jahr. In den neunziger Jahren begannen Ingenieure, die Gegend zu sichern. Bagger pressten den Boden fest, Betongemische wurden in den Untergrund gespritzt, Dämme wurden errichtet, ganze Areale versetzt. Experten beschrieben den Zustand des Bodens als "labiles Gleichgewicht".
- Anstieg des Grundwassers
Die Flutung der Berggruben veränderte den Boden. Analysen in den neunziger Jahren ergaben allerdings, dass keine Gefahr für die Böschung bestand, auf der Teile Nachterstedts liegen. Ein fataler Irrtum? Zum Zeitpunkt der Katastrophe lag der Pegel des Sees rund 20 Meter unter dem angepeilten Stand. Der Boden unter der Siedlung blieb weitgehend trocken, das zeigten Überprüfungen.
Trotzdem wäre es möglich, dass das Wasser den Untergrund entscheidend destabilisierte. Untersuchungen haben ergeben, dass die unterste der drei Grundwasserschichten unter dem größten Druck steht und nach oben presst. Dass die Schichten auf diese Weise verbunden sind, sei "eine gefürchtete Situation", sagt Ingenieur Katzenbach. Der Wasserdruck wirkt der Erdanziehungskraft entgegen - so könnte er dem Erdreich gefährlich viel Auftrieb verliehen haben.
Derzeit bohren Gutachter Brunnen in die Umgebung von Nachterstedt, manche tiefer als 250 Meter, um die entscheidende Frage zu klären: Liegen die Grundwasserschichten in einem Gefälle, so dass dem Wasser zusätzlich Energie verliehen wurde?
- Warnzeichen
Jahrzehntelang ist es immer wieder zu Abbrüchen von teils besiedelten Halden in der Region gekommen. Die Gutachter weisen bisher Anschuldigungen zurück, dass es in Nachterstedt vor der Katastrophe Warnsignale gab - die Staatsanwaltschaft Magdeburg bestätigte SPIEGEL ONLINE allerdings, es hätten sich "eine Vielzahl von Zeugen" gemeldet, die vor dem Rutsch Veränderungen im Erdreich von Nachterstedt oder an ihren Häusern bemerkt haben wollen. Von Löchern im Boden ist demnach berichtet worden, von kleinen Abbrüchen oder Rissen in Wänden.
Die Vorwürfe der Zeugen könnten auf sie selbst zurückfallen. Sie müssen sich fragen lassen, ob sie ihre besorgniserregenden Beobachtungen an Erdreich und Wänden den Behörden gemeldet haben.
Fest steht: Kleine Bewegungen des Bodens sind normal in Bergbauregionen. Die Frage ist: Wann genau sollten die Behörden Alarm schlagen? 2008 am Knappensee in der Lausitz wurden Signale des Untergrundes sehr ernst genommen. Ein Hotel auf einer Abraumhalde musste schließen, nachdem der Boden abgesackt war.
- Mangelnde Überwachung
Viele bebaute Hänge im Bundesgebiet werden überwacht, zum Beispiel mit GPS-Sensoren. So werden kleinste Bodenbewegungen erkannt. Am Concordia-See dagegen gab es nur ein rudimentäres System aus Grundwassermessgeräten; GPS wurde nicht eingesetzt.
Mangelde Überwachung ist die offene Flanke der Behörden. Diesbezügliche Vorwürfe weisen sie zurück, indem sie auf "umfangreiche Maßnahmen zur dauerstandsicheren Böschungssanierung verweisen" - auf geologische Prüfungen des Untergrundes also.
- Der Auslöser
Am 18. Juli 2009 um 4.40 Uhr registrierte die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe ein unmerkliches Erdbeben in der Nähe von Nachterstedt. Es dauerte 60 Sekunden. Um 4.48 ging der erste Notruf aus der Katastrophenregion ein. Außerdem hatten Bürger vor der Rutschung nach eigenen Aussagen Strudel im Concordia-See beobachtet und ein Grollen im Untergrund vernommen. Aus diesen Beobachtungen wollen Experten nun Schlüsse ziehen.
Zum Beispiel könnte man mögliche Erdbeben künftig berücksichtigen, wenn es darum geht, Abraumhalden als siedlungstauglich auszuweisen. In vielen Regionen wird dies nicht getan, auch nicht im Raum Nachterstedt, sagt Ingenieur Katzenbach. "Eine Lehre aus der Katastrophe könnte sein, entsprechende Modelle zu entwickeln", sagt er. Mögliche Bodenerschütterungen sollten künftig in die Planung der neuen Seenlandschaften einbezogen werden.