
Terrorvögel: Zwischen Blutdurst und Grünzeug
Zwei Meter Stehhöhe, 175 Kilogramm Gewicht: Vor Millionen Jahren war der Laufvogel Gastornis das größte Landwirbeltier Europas. Eine Gefahr für seine Mitgeschöpfe war der Gigant vermutlich nicht. Gastornis war wohl Vegetarier.
Als vor rund 65 Millionen Jahren das Zeitalter der Dinosaurier abrupt endete, begann der Kampf um die Spitzenpositionen der Nahrungskette von vorne. Und für mehr als zwanzig Millionen Jahre war nicht klar, wer sich da am Ende durchsetzen würde: Neben Raubsäugern und Großechsen gab es fast weltweit auch extrem große Laufvögel, von denen einige Fleischfresser waren. Die größten lebten in Australien, erreichten Stehhöhen von bis zu drei Metern und ein Gewicht von fast 600 Kilogramm.
"Donnervögel" (Dromornithidae) nennt man fast poetisch diese australischen, je nach Art auf Pflanzen- oder Fleischnahrung spezialisierten Riesen, "Terrorvögel" (oder Phorusrhacidae) ihre etwas kleineren, aber eindeutig karnivoren Verwandten, die in Südamerika die Top-Räuber gewesen sein dürften.
Weniger klar ist hingegen die Rolle, die die Gastornithidae spielten - die größten Vögel, die je in Nordamerika und Europa lebten. Über sie gibt es zwei konkurrierende Meinungen: Die einen sehen in dem mitunter auch Diatryma genannten Gastornis einen Fleischfresser des frühen Paläogen (ca. 61 bis 41 Millionen Jahre). Die anderen halten ihn für einen zwar wehrhaften, aber wohl vegetarischen Laufvogel.
Die Debatte darüber, ob Gastornis nun eher Blätter oder Beutetiere in seinem mächtigen Schnabel zermalmte, gibt es seit 1855. Die Mehrheitsmeinung neigte lang der Fleischfresser-These zu: Typisch, wie man Gastornis in den Anfangsszenen der populären BBC-Dokumentation "Die Erben der Saurier" (2001) als unerbittlichen Jäger sah, wie er das possierliche Leptictidium durch den heute hessischen Urwald jagte - in jeder Hinsicht ein direkter Nachfolger der flinken Raubsaurier.
Groß, aber nicht gierig auf Fleisch
Doch das war wohl ein Irrtum. Schon im Sommer 2013 hatte die These von der gigantischen, aber vegetarischen "Geißel aller Gewächse" frischen Rückenwind gewonnen: Bonner Forscher stellten auf der internationalen Goldschmidt-Tagung für Geochemie in Florenz eine erste Studie vor, in der sie die Kalzium-Isotopen-Zusammensetzung fossiler Knochen des Gastornis analysierten. Die Ergebnisse deuteten auf einen Planzenfresser hin.
Bestätigt wird das nun durch eine ungleich aufwändigere vergleichende Studie französischer Forscher um die Geochemikerin Delphine Angst von der Universität Lyon. Ihre im Fachblatt "Naturwissenschaften" veröffentlichte Untersuchung folgt einem Zwei-Methoden-Ansatz. Sie vergleicht zum einen die Kohlenstoff-Isotope in Knochen fossiler wie rezenter Vögel und Säugetiere, zum anderen morphologische Merkmale von Vogelkiefern, aus denen sich Rückschlüsse auf Muskulatur und Ernährungsweise ziehen lassen (DOI: 10.1007/s00114-014-1158-2).
Angst und ihre Co-Autoren bestätigen die Befunde des Bonner Teams um Thomas Tütken: Die Knochen von Gastornis deuten auf eine vegetarische Ernährungsweise hin. Und das lasse sich auch aus den Merkmalen des Schnabels und Kiefers schließen, wie der anatomische Vergleich mit rezenten Arten zeige.
Die Kiefermuskulatur von Gastornis, so die Rekonstruktion, ähnelte der heutiger Pflanzenfresser. Sie kam aber nicht auf die extreme Stärke, die Vogelarten erreichen, die sich von Nüssen und Samen ernähren. Gastornis dürfte demnach ein "Schneider" und kein "Knacker" gewesen sein - naheliegend auch in Anbetracht der Größe des Vogels.
Dass Gastornis also wohl keinen Blutdurst kannte, dürfte die Begegnung mit ihm wahrscheinlich nur graduell weniger bedrohlich gemacht haben: Das Tier verfügte nicht nur über einen massiven, extrem beißkräftigen Schnabel, sondern auch über äußerst kräftige Geh- und Trittwerkzeuge mit scharfen Krallen. Zu seiner Zeit hatte ein ausgewachsener Gastornis auch als Vegetarier wohl kaum Feinde zu fürchten.