Forscher-Protest Tiefensee argumentiert in Tempolimit-Streit mit Zahlen von 1996

Absichtliche Desinformation: Das werfen Wuppertaler Klimaforscher Verkehrsminister Tiefensee vor. Die Zahlen, mit denen die Behörde des SPD-Politikers gegen ein Tempolimit argumentiert, sind von 1996 - und werden den Kritikern zufolge politisch ausgenutzt.
Von Franziska Badenschier und Volker Mrasek

Berlin - Herbe Kritik an Wolfgang Tiefensee und seinem Ministerium: Was aus dem Bundesverkehrsministerium in Sachen Tempolimit und CO2 verlaute, sei "nicht sehr seriös", sagt Jochen Luhmann vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie. Zusammen mit Kollegen legte der Mathematiker und Ökonom erst kürzlich eine neue Studie zum Thema vor. Titel: "Klimawirksame Emissionen des PKW-Verkehrs und Bewertung von Minderungsstrategien" .

Die Wuppertaler Forscher gehen davon aus, dass ein Tempolimit von 120 Kilometer pro Stunde den CO2-Ausstoß von Pkw auf bundesdeutschen Autobahnen um 20 bis 30 Prozent vermindern könnte. Es fehle aber an aktuellen Daten, beklagt Luhmann - und greift auch hier Tiefensees Ministerium scharf an: "Es hat den Anschein, dass das Bundesverkehrsministerium deswegen keine neuen Studien in Auftrag gibt, um mit veralteten Zahlen Desinformation betreiben zu können." Das Ministerium geht lediglich von einem Einsparpotential von 0,6 Prozent aus.

"Es ist legitim, alte Zahlen zu verwenden"

Im Verkehrsministerium ist man sich keiner Schuld bewusst: "Es gibt keine neueren Zahlen. Dann ist es durchaus legitim, die alten zu verwenden", sagt Jürgen Frank, Pressesprecher im Bundesverkehrsministerium. Das mag sein. Aber warum wurde nicht wenigstens erwähnt, dass die Zahlen schon zehn Jahre alt sind und die Publikation des Bundesumweltamts von 1999 sind? Warum wurde nicht erwähnt, dass sich die Kenngrößen geändert haben können und somit auch das Kohlendioxid-Einsparpotential von 0,6 Prozent womöglich nicht mehr korrekt ist? "Da muss man nicht darauf hinweisen", so Frank zu SPIEGEL ONLINE.

"Umweltauswirkungen von Geschwindigkeitsbeschränkungen"  steht über dem 54-seitigen Bericht des Umweltbundesamtes (UBA). Erschienen: im Juni 1999. Inhalt: Sogenannte "Pkw-Geschwindigkeitskenngrößen" wie mittlere Geschwindigkeit und Schnellfahrer, die mit mehr als 130 Kilometer pro Stunde auf den deutschen Autobahnen unterwegs sind, sowie Prognosen für die Einsparung von klimaschädlichem CO2 im Falle eines Tempolimits.

Allein von 1982 bis 1992 ist der Anteil der Raser unter allen Autofahrern von 25 auf 35,9 Prozent gestiegen, steht in dem Bericht. Zahlen, wie hoch heute der Schnellfahrer-Anteil ist, gibt es nicht. Dabei macht der einen Großteil des CO2-Einsparpotenzials aus, den ein Tempolimit mit sich bringt.

Auch die Durchschnittsgeschwindigkeit, mit der die Deutschen hierzulande auf den Autobahnen unterwegs sind, ist von 1982 bis 1992 gestiegen - von 112,3 auf 120,4 Kilometern pro Stunde; auf Autobahnabschnitten mit weitgehend freier Geschwindigkeitswahl im Mittel 132 km/h. "Betrachtet man die Entwicklung der mit Pkw auf Autobahnen gefahrenen Geschwindigkeiten in den vergangenen Jahren, so zeigt sich ein unverminderter Trend zu höheren Geschwindigkeiten", schrieben die UBA-Wissenschaftler 1999. Und wie schnell brettern der Durchschnittsdeutsche und der Super-Raser heute durchs Land? Das weiß niemand so genau.

Bekannt sind indes Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes: Am 1. Januar 1992 waren in Deutschland 36.582.268 Kraftfahrzeuge gemeldet, vier Jahre später 47.658.853 und zu Beginn dieses Jahres 55.511.374. Innerhalb von 15 Jahren ist Deutschlands Fuhrpark um 50 Prozent größer geworden.

Wenn im Jahr 1996 acht von zehn Autofahrern sich an ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde gehalten hätten, hätte Deutschland 4,7 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einsparen können, heißt es in der UBA-Studie. Macht drei Prozent weniger Kohlendioxid im Straßenverkehr - und 0,6 Prozent weniger am deutschen Gesamtausstoß von Kohlendioxid, weil der gesamte Verkehrssektor im vergangenen Jahrzehnt rund ein Fünftel zu Deutschlands CO2-Emissionen beitrug. Hierher stammt die Zahl, mit der das Bundesverkehrsministerium jetzt die Diskussion um ein Tempolimit beenden will.

Bei einem Tempolimit von 120 km/h ließen sich den UBA-Berechnungen zufolge jährlich immerhin 2,2 Millionen Tonnen CO2 im Vergleich zu 1996 einsparen - zwei Prozent der Straßenverkehrsemissionen und 0,3 der Treibhausgas-Ausstoßes ganz Deutschlands.

Keine Peanuts, sondern Beitrag zu Großem

Dass es sich bei einer Reduktion von 0,3 oder 0,6 Prozent des gesamten Kohlendioxid-Ausstoßes in Deutschland keinesfalls um Peanuts handelt, lässt sich auch beim Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) nachlesen. Seine Experten veröffentlichten im Juli 2005 ein Sondergutachten zu den Umweltauswirkungen des Straßenverkehrs.

Darin werden die 0,3 Prozent als mager erscheinende Zahl erwähnt. Doch gleich im nächsten Satz heißt es: "Allerdings gilt gerade auch für den Verkehrsbereich, dass eine spürbare Verminderung der CO2-Emissionen nur durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen erreicht werden kann, wobei jede einzelne Maßnahme für sich betrachtet naturgemäß nur relativ geringfügige Minderungsbeiträge erbringen kann." So enthalte auch das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung "einige Einzelmaßnahmen, die ähnlich geringe Minderungsbeiträge leisten, und deren Nutzen dennoch nicht angezweifelt wird". Als Beispiel nennt das SRU-Papier die Biogaserzeugung und Biogasnutzung in der Landwirtschaft.

Dass das Verkehrsministerium Zahlen aus der alten Studie strapaziert, begründete die Pressestelle auf Anfrage von SPIEGEL Online heute damit, dass "uns neuere Studien nicht bekannt sind". Erstaunlicherweise gelten selbst beim Umweltbundesamt die alten Zahlen von 1996 als die aktuellsten Daten zu CO2 und Tempolimit. Man darf den Berliner Ministerialen dazu raten, einen aufmerksamen Blick ins europäische Ausland zu werfen.

Vollgas, volles Rohr: die volle Ladung Kohlendioxid

In England haben Forscher des UK Energy Research Centre und der University of Oxford erst im letzten Jahr detailliert hochgerechnet, welche klimaentlastende Wirkung Geschwindigkeitsbeschränkungen im Königreich haben würden. Das Ergebnis: Bei einem konsequenten Tempolimit von 60 Meilen pro Stunde (umgerechnet circa 97 km/h) könnten der Atmosphäre innerhalb von fünf Jahren schätzungsweise 9,4 Millionen Tonnen Kohlenstoff erspart werden. "Das entspricht zwischen 15 und 29 Prozent der gesamten möglichen Einsparungen des Verkehrssektors bis 2010", wie die Autoren folgern. Auch bei einer Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 70 Meilen pro Stunde (rund 113 km/h) ist der Effekt demnach noch deutlich spürbar. Dann landete man immerhin noch bei einer Reduktion von acht bis 15 Prozent.

Auch dem gemeinen Autofahrer darf man die britische Studie zur Lektüre empfehlen. Sie zeigt, was Umweltwissenschaftler schon lange - aber vergeblich - predigen: Erst wer das Gaspedal richtig durchtritt, bläst auch überproportional viele Schadstoffe in die Luft - ganz gleich, welches Auto er fährt.

Nach den Daten aus England produziert ein Diesel-Pkw mit über zwei Litern Hubraum und Euro-II-Klassifizierung bei Tempo 121 (75 Meilen/Stunde) rund 220 Gramm Kohlendioxid pro zurückgelegtem Kilometer. Zeigt der Tacho 145 (90 Meilen/Stunde), sind es schon 320 Gramm. Ein Benziner in derselben Hubraumklasse erhöht seinen Output bei einem solchen Tempowechsel von rund 230 auf knapp 300 Gramm pro Kilometer.

Was die Zahlen der Briten auch zeigen: Ein Diesel-Pkw stößt zwar bei niedrigen Fahrtgeschwindigkeiten weniger Treibhausgas aus als ein Benziner. Ab Tempo 130 etwa verhält es sich aber genau umgekehrt: Das Diesel-Abgas enthält dann mehr CO2 als das des Benziners.

Ein entscheidendes Argument in der Diskussion haben Tiefensee und die Autolobbyisten von ADAC & Co jedoch verschwiegen: Ein Tempolimit kostet praktisch nichts, kann jedoch Millionen Tonnen CO2 einsparen. Das ist bei vielen anderen Klimaschutzmaßnahmen, etwa beim Wärmedämmen von Altbauten, völlig anders.

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