
Geologischer Brexit: Dramatische Brüche
Trennung von Europa Geologischer Brexit verlief katastrophal
Diese politische Anspielung kann sich der Geologe dann doch nicht verkneifen: "Wir reden hier vom Brexit 1.0. Ohne ihn hätte es den jetzt bevorstehenden Austritt meines Landes aus der EU vielleicht nie gegeben." Und ganz unabhängig davon, wie es Großbritannien in den kommenden Jahren ergeht, eines kann Sanjeev Gupta mit Sicherheit sagen: Der erste Brexit war eine Katastrophe.
Der Wissenschaftler vom Imperial College in London spricht allerdings nicht von einer politischen, sondern von einer ganz realen Verbindung Britanniens mit dem Festland. Wo heute der Kanal am schmalsten ist, lag einst zwischen Dover auf englischer Seite und Calais in Frankreich ein breiter Kalkrücken. Er ist in einem dramatischen zweistufigen Prozess vor 450.000 und 160.000 Jahren durchgebrochen.
Erst frästen gewaltige Wasserfälle breite Kanäle in den Fels, und wo das Wasser unten aufschlug, entstanden tiefe Becken. Dann sprengte aufgestautes Wasser eine breite Lücke in das Hindernis. Zusammen mit Kollegen aus Belgien und Frankreich hat Gupta den Ablauf nun mit ungeahnter Präzision im Fachblatt "Nature Communications" nachgezeichnet.
Aufgestaute Wassermassen
Die weißen Klippen von Dover und das Cap Blanc-Nez bei Calais sind Reste der Landbrücke. Erst als sie verschwunden war, wurde Britannien zur Insel, jedenfalls bei einem hohen Meeresspiegel wie in der jetzigen Warmzeit. Die Brüche geschahen nach den Daten der Forscher jedoch zum Höhepunkt von zwei Eiszeiten, als das Meer viel tiefer lag.

Geologischer Brexit: Dramatische Brüche
Damals hatte sich ein See in der südlichen Nordsee gebildet, erzählt Gupta. "Das Wasser wurde im Süden von der Landbrücke aufgestaut, im Norden blockierten die Eisschilde über Skandinavien und dem Norden Britanniens, die sich vereinigt hatten, den Weg ins Polarmeer. Und große Flüsse wie Themse, Maas und Rhein mündeten in den See."
Vor 450.000 Jahren hielt der Kalkstein dem Druck zum ersten Mal nicht mehr Stand. Das Wasser im See hatte sich 30 Meter über den heutigen Meeresspiegel aufgestaut. Durch mehrere Kanäle drängte es zur Kante der Klippen, wo es womöglich 100 Meter in die Tiefe stürzte.
Einfluss auf Tunnelplanung
Unten wusch das herabstürzende Wasser bis zu 100 Meter tiefe sogenannte Auskolkungen in den Fels. Sie sind zwar längst von vielen Schichten Sediment gefüllt und darum mit Sonargeräten nicht mehr zu erkennen. Die Forscher um Gupta haben die Messung der Wassertiefe aber mit seismischen Untersuchungen des Untergrunds kombiniert.
Die Löcher im Meeresboden wurden schon vor einigen Jahrzehnten entdeckt, als der Kanaltunnel in der Planung war. Sie heißen Fosse Dangeard und liegen genau auf der sogenannten Weald-Artois-Antiklinale, einer Linie von aufgewölbtem Kalkgestein in der südenglischen Grafschaft Kent, die sich im Pas-de-Calais fortsetzt. Die Kante, über die das Wasser des aufgestauten Sees damals stürzte, hat sich an Land also erhalten. "Wegen der Fosse musste der Tunnel gegenüber der ursprünglichen Planung verlegt werden", sagt Gupta, "er hätte sonst durch diese Instabilität geführt."
Sein Team hat die Vertiefungen nun mit hochauflösender Seismik abgebildet: Es sind sieben Vertiefungen, die offenbar zu vier parallelen Kanälen in Nordost-Südwest-Richtung gehören. Die neue Untersuchung bestätigt eine Studie Guptas, die 2007 im Fachblatt "Nature" erschienen war.
Wo das Wasser vor 450.000 Jahren aus dem größten, mittleren Kanal nach unten stürzte, haben sich nacheinander drei solche Löcher gebildet, als sich die Kante unter der Gewalt des Wassers immer weiter nach Nordosten zurückzog. Warum Trennstege zwischen den Vertiefungen stehen blieben, kann der Londoner Geologe aber nicht sagen.
Nicht mit Grand Canyon vergleichbar
Nicht ganz so dramatisch waren die Verhältnisse vor 160.000 Jahren. Der Wasserstand im See dürfte etwa dem heutigen Meeresspiegel entsprochen haben und statt hoher Wasserfälle gab es an der Kante nur noch Katarakte von vielleicht 20 Meter Höhe. Auch sie fraßen sich rückwärts durch das Hindernis und hinterließen so zwei Känale, die heute zusammen Lobourg Channel genannt werden. Sie schneiden die Vertiefungen der Fosse, sind also erkennbar deutlich später entstanden.
Das Gesamtbild der Löcher und Kanäle spricht Gupta zufolge für katastrophale Brüche der Kalksteinbrücke, ausgelöst durch die Gewalt des aufgestauten Wassers. Er hält darum eine konkurrierende Theorie für widerlegt, wonach der Kalkrücken durch die Erosion eines Flusses langsam, aber stetig abgeschliffen wurde.
Dem stimmt Philip Gibbard von der University of Cambridge zu: "Der kontinuierliche Prozess kann jetzt ausgeschlossen werden, das ist wirklich ein großer Schritt vorwärts." Die geologischen Prozesse im englischen Kanal seien darum auf keinen Fall etwa mit dem Grand Canyon vergleichbar, den der Fluss Colorado über Jahrmillionen in ein Hochplateau geschnitten hat. "Dort hat sich das Land gehoben, das ist der entscheidende Unterschied", sagt Gibbard.
"Zwei konkurrierende Hypothesen"
Claire Mellett vom Britischen Geologischen Dienst ist hingegen noch nicht überzeugt. Sie gehörte 2013 zu einem Team der University of Liverpool, das die langsame Erosion eines Flusses zur Ursache erklärt hatte , warum die Landbrücke zwischen Dover und Calais verschwunden ist. "Es ist wie immer in der Wissenschaft, man beantwortet einige Fragen, aber andere bleiben offen", sagt sie. "Wir haben zwei konkurrierende Hypothesen, und beide stützen sich auf unzureichende Daten, besonders was die zeitlichen Abläufe angeht."
Darin ist sie sich auch mit Sanjeev Gupta einig: Er räumt ein, dass seine Zeitangaben eher grobe Schätzungen sind. "Um das genau zu datieren, müssten wir Bohrkerne aus den Sedimenten in der Fosse entnehmen. Das wird eine echt große Aktion - mitten in der am meisten befahrenen Schifffahrtsroute der Welt."
Für die Wissenschaftler ist zudem offen, ob der Bruch der Landbrücke unvermeidlich war. Philip Gibbard ist davon überzeugt. "Das Wasser dahinter konnte nicht weg und hat einen gewaltigen Druck erzeugt. Irgendwas musste da nachgeben."
"Rather timely"
Sanjeev Gupta dagegen könnte sich vorstellen, dass zum endgültigen Bruch vor 160.000 Jahren ein externes Ereignis beigetragen hat, ein Erdbeben vielleicht. Ohne dieses könnte die Brücke mit tiefen Einschnitten heute vielleicht noch stehen. Aber das sei Spekulation, räumt er ein.
Fest steht: Das Timing der Veröffentlichung seiner Studie passt perfekt in die Woche, nachdem die britische Premierministerin Theresa May den Brief über den EU-Austritt ihres Landes nach Brüssel geschickt hat. Bei "Nature" stellt man das als reinen Zufall dar. Aufsätze würden vier bis sechs Wochen nach Annahme veröffentlicht. Aber das Erscheinen, heißt es bei der Pressestelle, sei nun "rather timely" - einfach zur rechten Zeit.
Zusammengefasst: Geologisch hat sich Großbritannien schon lange vom Rest Europas verabschiedet: In einem zweistufigen Prozess, beginnend vermutlich vor rund 450.000 Jahren, soll sich Wasser durch einen Kalkrücken in der heutigen Straße von Dover gefräst haben, berichten Forscher. Die Wasserfälle könnten damals 100 Meter hoch gewesen sein. Spuren der Naturgewalten davon wollen die Geologen im Sediment aufgespürt haben.