Interview mit Greta Thunberg "Es ist ein gutes Zeichen, dass sie mich hassen"

Schulstreik für das Klima: Die 16-jährige Greta Thunberg ist die Ikone einer neuen Jugendbewegung. Im SPIEGEL-Interview verrät die Schwedin, warum sie schwänzen muss, um gehört zu werden - und wer hinter der Aktion steckt.
Greta Thunberg

Greta Thunberg

Foto: FABRICE COFFRINI/ AFP

Und dann kommt sie. Das Kindergesicht der internationalen Klimaschutzbewegung, das neue Hassobjekt der Klimawandelleugner, Vorbild für Tausende Jugendliche in Australien, Belgien oder Deutschland, die Schule schwänzen, auch ihretwegen.

Freitag, acht Uhr morgens, Greta Thunberg stapft über die Brücke vor dem Reichstag in Stockholm, durch den Schnee vom Vortag. Sie trägt eine rosa Skihose und hat zwei Wollmützen über ihre Zöpfe gezogen. Sie sieht jünger aus als 16, viel jünger.

Sie ist nur 1,53 Meter groß: ein zartes Persönchen. Und dann das riesige Schild in ihrem Arm. "Skolstrejk för Klimatet", "Schulstreik für das Klima." Jeden Freitag verpasst Greta die Schule, um sich hierhin vor den Reichstag zu stellen, stundenlang, bei Sonne, Regen oder in die skandinavische Kälte. Sie brüllt keine Parolen, sie tanzt nicht, singt nicht. Sie ist einfach nur da. Sie und ihr Schild. An diesem Freitag sind etwa 100 junge, mittelalte und betagte Klimaaktivisten mit dabei. Rundherum Kamerateams aus verschiedenen Ländern. Denn auch anderswo in der Welt gehen neuerdings Schüler für den Klimaschutz auf die Straße, inspiriert durch Greta.

Der SPIEGEL hat Greta Thunberg bei ihrem Streik getroffen. Später, am Freitagnachmittag, als es in Stockholm schon ordentlich schneite, fand das Interview statt. Draußen in der Kälte. So wollte es Greta. Und Kompromisse sind nicht so ihr Ding.


SPIEGEL ONLINE: Greta, Sie sind gerade 16 Jahre alt geworden - und plötzlich die Heldin einer neuen internationalen Jugendbewegung. Zehntausende junge Menschen in Australien, Deutschland oder Belgien schwänzen nach Ihrem Vorbild die Schule, um für Klimaschutz zu demonstrieren. Und Sie selbst waren der Star auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, immer umringt von Kameras und Mikrofonen. Was macht das mit Ihnen?

Greta Thunberg: Es ist sehr anstrengend. Ich bin es nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Normalerweise bin ich das stille Mädchen, das ganz hinten sitzt. Aber von einem Tag auf den anderen wollen nun viele Menschen mit mir sprechen und Selfies mit mir machen. Das überwältigt mich manchmal.

Video: "Ich will, dass ihr in Panik geratet"

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SPIEGEL ONLINE: Genießen Sie das nicht auch?

Thunberg: Ich muss es akzeptieren. Jeder Artikel über mich und jedes Fernsehinterview bedeutet öffentliche Aufmerksamkeit für die Klimakrise. Und dieses Thema braucht viel mehr Aufmerksamkeit. Es geht um Leben oder Tod.

SPIEGEL ONLINE: Sind Sie stolz auf Ihren Erfolg?

Greta Thunberg: Nein. Ich habe doch noch gar nichts erreicht. Selbst wenn es jetzt Demonstrationen rund um die Welt gibt, ist das nur ein Anfang. In Wahrheit interessieren sich die Politiker nicht für uns. Hier in Schweden haben sie gerade monatelang über eine neue Regierung verhandelt. Aber das Klima hat dabei fast keine Rolle gespielt.

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Thunberg: Die meisten Erwachsenen sind sich nicht bewusst, wie schwerwiegend die Klimakrise ist. Sie wissen, dass sich etwas verändert, aber sie wissen nicht genau, welche Folgen der Klimawandel haben wird. Die Erwachsenen müssen erkennen, dass sie die Zukunft ihrer Kinder und der Generationen danach aufs Spiel setzen, wenn sie so weiter machen. So lange das nicht passiert und wir keinen öffentlichen Druck ausüben, werden die Politiker das Thema weiter ignorieren.

SPIEGEL ONLINE: Finden Sie es denn gut, dass Zehntausende Kinder die Schule schwänzen, statt sich dort zu bilden?

Thunberg: Es ist ein gutes Zeichen, dass junge Menschen die älteren Generationen verantwortlich machen und sagen: Wir werden das nicht länger akzeptieren. Ihr müsst aufhören, unsere Zukunft kaputt zu machen.

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SPIEGEL ONLINE: Aber warum können Sie dann nicht in Ihrer Freizeit demonstrieren gehen?

Thunberg: Weil es weniger bringen würde. Wissen Sie: Ich darf nicht wählen, obwohl es hier um meine Zukunft geht. Und zur Schule muss ich gehen. Wenn ich dann schwänze, um gegen die Klimakrise zu protestieren, wird auf meine Stimme viel eher gehört. Das ist wichtig, denn hier geht es um die größte Krise der Menschheitsgeschichte.

SPIEGEL ONLINE: Können Sie akzeptieren, dass andere Menschen andere Meinungen zum Klima haben?

Thunberg: Ich höre diesen Menschen zu. Doch das hier ist ein Schwarz-Weiß-Thema: Entweder besteht unsere menschliche Zivilisation fort - oder nicht. Es gibt kein Grau, wenn es um unser Überleben geht. Wir müssen den Ausstoß von Treibhausgasen stoppen. Und dafür müssen wir alle uns ändern. Ich kann es nicht verstehen, wenn Leute einerseits sagen, dass Klimawandel eine existenzielle Bedrohung ist - und dann andererseits einfach so weiterleben wie immer: fliegen, Fleisch essen, Autofahren. Hier kommt meine Diagnose ins Spiel...

SPIEGEL ONLINE: ...bei Ihnen wurde das Asperger-Syndrom diagnostiziert, eine milde Form des Autismus. Menschen mit diesem Syndrom wird oft ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken nachgesagt. Ist das nicht ein Hindernis?

Thunberg: Nein, meine Diagnose ist eine Hilfe. Sonst hätte ich wohl einfach so weiter gelebt, wie viele andere Menschen. Dabei ist es doch logisch: Entweder versuchen wir diese Krise wirklich mit allen Mitteln zu lösen - oder nicht.

SPIEGEL ONLINE: Sie sehen durch den Klimawandel das Überleben der Menschheit bedroht - und werfen den heutigen Politikern Desinteresse vor. Ist die Demokratie Ihrer Ansicht noch das richtige System, um die Krise abzuwenden? Oder wollen Sie eine Art Ökodiktatur?

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Greta Thunberg: Eine Schülerin und das Klima

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Thunberg: Unsere Demokratie ist alles, was wir haben. Wir dürfen sie nicht opfern. Und gerade darum müssen wir jetzt handeln: innerhalb unseres demokratischen Systems. Aber wenn wir einfach so weiter machen wie bisher, könnten schreckliche Dinge geschehen.

SPIEGEL ONLINE: Viele Leute sind schon jetzt wütend - auf Greta Thunberg. Sie beschimpfen Sie im Internet als "psychisch gestört", "gedrillte Göre" - oder vergleichen die junge Klimabewegung gar mit der Hitlerjugend.

Thunberg: Manchmal lese ich solche Beiträge, um die Argumente dieser Menschen kennenzulernen. Die meisten haben gar keine Argumente; sie attackieren mich wegen meines Erscheinungsbildes oder der Diagnose. Aber es ist ein gutes Zeichen, dass sie über mich schreiben und mich hassen. Denn das zeigt, dass sie mich als Bedrohung ansehen.

SPIEGEL ONLINE: Machen Sie solche Angriffe nicht traurig?

Thunberg: Mir tun diese Menschen leid. Sie kapieren nicht, wie ernst unsere Lage ist. Natürlich kommt es ihnen dann verrückt vor, dass Zehntausende für das Klima einen Schulstreik starten. Wenn man so wie ich in die Öffentlichkeit geht, muss man auch zulassen, kritisiert zu werden. Deswegen beschwere ich mich nicht darüber. Auch wenn ich noch ein Kind bin und es falsch ist, Gemeinheiten über ein Kind zu verbreiten.

SPIEGEL ONLINE: Man hat Sie angegriffen, weil Sie im Zug nach Davos Toastbrot aus einer Plastikverpackung gegessen haben....

Thunberg: Wir sind 32 Stunden mit dem Zug gefahren. Wir mussten unterwegs irgend etwas essen, und diese Produkte werden nun mal in Plastik verpackt. Und nicht alle Lebensmittel auf dem Tisch im Zug habe ich mitgebracht.

SPIEGEL ONLINE: Für ein "Kind", wie Sie sich selbst nennen, sind Ihre Reden erstaunlich geschliffen. Ihre Gegner behaupten, Sie würden von Erwachsenen instrumentalisiert - und seien vor allem eine Marionette für eine PR-Kampagne Ihrer Eltern, die kurz nach Beginn Ihres Streiks ein Buch veröffentlicht haben. Wer steckt hinter Greta?

Thunberg: Ich selbst stecke hinter Greta. Der Schulstreik war allein meine Entscheidung. Die Idee hatte ein anderer ...

SPIEGEL ONLINE: ... der Umweltaktivist Bo Thorén…...

Thunberg: … und dann entwickelte ich die Idee weiter. Weil niemand mitmachen wollte, habe ich mich alleine vor das Parlament gesetzt. Manche Menschen behaupten, meine Eltern hätten mich gehirngewaschen. Aber es war umgekehrt: Ich habe meinen Eltern das Gehirn gewaschen. Ich habe sie überzeugt, nicht mehr zu fliegen und kein Fleisch mehr zu essen (schmunzelt).

SPIEGEL ONLINE: Mal ehrlich, schreiben Sie Ihre Reden wirklich ganz allein?

Thunberg: Ich schreibe meine Reden selbst. Aber ich hole mir dazu die Hilfe von Wissenschaftlern: Wie genau soll ich dies oder das sagen? Ist alles richtig und präzise dargestellt? Dann frage ich zum Beispiel Kevin Anderson und Glenn Peters...

SPIEGEL ONLINE: ...zwei der angesehensten Klimatologen weltweit. Und Ihr Vater?

Thunberg: Der liest sich das durch. Und dann sagt er: Ich glaube, Du solltest dies hier anders formulieren.

SPIEGEL ONLINE: Ändern Sie es dann?

Thunberg: Manchmal. Oft auch nicht (lacht auf). Ich kann sehr stur sein.

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie selbst sich denn verändert in fünf Monaten seit Beginn Ihres Schulstreiks? Ihren Eltern zufolge hatten Sie jahrelang schwere Essstörungen und waren depressiv: wegen des Klimawandels.

Thunberg: Die Aktion hat mein ganzes Leben verändert. Vorher aß ich jeden Tag immer dasselbe: Brot, Reis, Bohnen, das Nötigste. Ich sprach nur mit meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Lehrer; mit anderen hatte ich keinen sozialen Kontakt. Aber durch den Streik habe ich einen Sinn gefunden. Ich esse jetzt alles Mögliche, so lange es vegan ist. Und ich habe hier Freunde gefunden. Meine Eltern sehen, dass ich viel fröhlicher bin. Ich habe mich selbst geheilt.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie jetzt Spaß am Essen?

Thunberg: Essen sehe ich als Notwendigkeit. Ich brauche Treibstoff.

SPIEGEL ONLINE: Was halten Sie eigentlich von uns Journalisten? Wir beide sind nach Stockholm gekommen, um über Sie zu berichten. Und zwar mit dem Flugzeug.

Thunberg: Ich weiß nicht. Journalisten haben die Aufgabe, für andere zu berichten. Ja, sie sollten in die Arktis reisen, um über das schmelzende Eis zu schreiben, statt dass alle dahin fahren. Aber in diesem Fall ist das anders. Es gibt hier in Schweden viele Journalisten. Die könnten Ihre Arbeit erledigen und über diesen Streik hier berichten.

Foto: SPIEGEL ONLINE

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie Angst, dass niemand mehr über Sie berichtet, wenn Sie älter werden?

Thunberg: Das wird geschehen. Ich weiß, dass ich nicht mehr lange interessant sein werde für viele Menschen. Aber Aufmerksamkeit für mich selbst ist nicht wichtig. Es geht um das Klima.

SPIEGEL ONLINE: Und wie lange wollen Sie hier noch weiter für das Klima streiken?

Thunberg: Ich werde hier vor dem Reichstag möglichst jeden Freitag sitzen: So lange, bis Schweden das Pariser Klimaabkommen erfüllt. Wann das so weit ist, weiß ich nicht. Vielleicht dauert es noch Jahre, vielleicht wird es nie geschehen. Aber ich werde mich immer wieder dafür einsetzen. Darauf kommt es an.

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