Intelligenz und Evolution Dummheit siegt
"Nennt mich nicht schlau" - mit dieser provokanten Zeile überschreibt der Utrechter Verhaltensforscher Simon Reader einen Artikel im Fachblatt "New Scientist". Readers These ist simpel und überraschend zugleich. Der Mensch mit seinem vergleichsweise großen Gehirn ist in der Natur eine Ausnahme. Die meisten Tiere kommen bestens mit kleinen Hirnen und beschränkten Fähigkeiten zurecht. Ist der intelligente, kreative und lernbegierige Mensch nur ein Irrweg in der Evolution?
Tiere, die instinktiv Gefahren erkennen und ihnen aus dem Weg gehen, sind häufig gegenüber denen im Vorteil, die auf das Erlernen von Fähigkeiten setzen. "Lernen kostet Zeit und man riskiert dabei, Fehler zu machen", schreibt Reader. Fehler, die das Ende für ein Tier bedeuten können.
Und selbst wer schneller lernt als andere, hat davon nicht unbedingt einen Vorteil. Die Forscher Frederic Mery und Tadeusz Kawecki von der Universität Freiburg in der Schweiz konnten dies in einem Experiment mit Fruchtfliegen zeigen. Die Fliegen bekamen Gelee mit Ananas- und Orangengeschmack zu essen. Doch eines der Gelees war mit bitterem Chinin behandelt.
Später durften die Insekten ihre Eier in beiden Gelees ablegen. Eier, die in dem chininhaltigen Gelee lagen, wurden von den Forschern aussortiert und durften sich nicht zu erwachsenen Fruchtfliegen entwickeln.
Die Wissenschaftler tauschten immer wieder die Geleesorte, der sie bitteres Chinin zugaben, um zu verhindern, dass einfach nur eine Geschmacksrichtung bevorzugt wird. In der 20. Generation hatten sie schließlich Insekten selektiert, die besser lernen konnten als durchschnittliche Fruchtfliegen.
Doch in anderen Bereichen als dem Lernen zogen die Superfliegen gegen ihre vermeintlich dummen Artgenossen den Kürzeren. So hatten sie im Wettstreit um knappes Futter Nachteile gegenüber anderen Fruchtfliegen.
Aber es gibt durchaus Situationen, in denen Lernen von Vorteil ist. Wenn sich das Lebensumfeld sehr schnell ändert, ist individuelles Lernen die beste Strategie, um mit den neuen Gegebenheiten klarzukommen. Bei mäßig schnellen Änderungen zahlt sich soziales Lernen aus, also das Abschauen beim Artgenossen. Und sofern sich das Umfeld nur ganz langsam umgestaltet, sind vererbte Instinkte optimal.
Reader hält Intelligenz als alleiniges Erfolgsrezept in der Evolution für überschätzt. Die Kreativität, Dinge anders zu machen, komme nur dann ins Spiel, wenn die Lage der Menschen oder Tiere aussichtslos erscheine. "Not macht erfinderisch" - so lässt sich diese These auf den Punkt bringen.
Reader beruft sich dabei auf eigene Studien an Fischen: "Meine Experimente mit Guppys ergaben, dass hungrige, kleine und wenig rivalisierende Fische dazu tendierten, am innovativsten zu sein." Auch im Geschäftsleben hielten Menschen so lange wie möglich an bewährten, bereits getesteten Strategien fest.
Intelligenz sei kein Allheilmittel in der Evolution, sondern vielmehr nur eine von mehreren Optionen. Sie könne Vorteile bringen, etwa beim Erschließen neuer, bislang ungenutzter Nahrungsquellen. Doch sie habe auch ihre Kosten - das Risiko, sich zu vergiften oder einfach nur Energie für etwas aufzuwenden, das nicht funktioniert.
Letztlich können nur Individuen kreativ werden, die die potenziellen Kosten schultern können oder die so mit dem Rücken an der Wand stehen, dass Innovation ihr letzter Ausweg ist, um zu überleben.
Innovatives Handeln sei eine "hoch riskante Strategie", schreibt Reader. "Aber wenn abgerechnet wird, kann man damit auch den Evolutions-Jackpot knacken."
Die Erfolgsgeschichte menschlicher Intelligenz ist in den Augen des Verhaltensforschers nicht unbedingt die Geschichte von Individuen, die alles immer besser machen wollen, sondern eher die von Underdogs, die Dinge anders machen, damit es ihnen weniger schlecht geht.