Intelligenz Was Tiere denken
Jetzt ist "Alex" tot, doch 30 Jahre lang sorgte der Graupapagei für Furore in der Wissenschaft. 1977 war es, als die junge Harvard-Absolventin Irene Pepperberg ein kühnes Projekt startete. Tiere galten zu jener Zeit mehr oder weniger als lebende Automaten, die aufgrund ihrer genetischen Programmierung auf Reize reagieren, aber weder denken noch fühlen.
Pepperberg wollte mit ihnen sprechen und herausfinden, was in ihrem Kopf vorgeht. "Alex" war ein Jahr alt, als die Forscherin begann, ihm die Laute der englischen Sprache beizubringen: "Ich dachte, wenn er lernt zu reden, kann ich ihn fragen, wie er die Welt sieht." Als er im September 2007 starb, hatten seine Leistungen unsere Vorstellung von dem, was Tiere können, revolutioniert.
Wir sehen die Liebe in den Augen unseres Hundes und sind uns sicher, dass natürlich auch "Bello" denkt und fühlt. Doch Bauchgefühle sind keine Wissenschaft, und nur allzu leicht projiziert man menschliche Gedanken und Empfindungen auf ein anderes Lebewesen. Wie aber soll ein Wissenschaftler beweisen können, dass ein Tier zu echtem Denken fähig ist?
"Deswegen wollte ich mit 'Alex' arbeiten", sagt Pepperberg. Die beiden Mensch und Papagei hatten ein gemeinsames Zimmer an der Universität Brandeis in Massachusetts. Der fensterlose Raum war ungefähr so groß wie ein Güterwaggon. Sie saß am Schreibtisch, er oben auf seinem Käfig. Auf dem Fußboden lagen Zeitungen, auf den Regalen türmten sich Körbe mit buntem Spielzeug. Die beiden waren ein Team, und aufgrund ihrer Arbeit ist die Vorstellung, dass Tiere denken können, keine Phantasie mehr. Spezielle Fähigkeiten gelten als Zeichen für höhere geistige Prozesse: ein gutes Gedächtnis, ein Begriffsvermögen für Grammatik und Symbole, ein Bewusstsein für das eigene Ich, das Verständnis für die Motive anderer, Nachahmung und Kreativität. Oft wird all das unter dem Begriff "Kognition" zusammengefasst, womit Denken in einem umfassenden Sinn gemeint ist.
Mit geschickten Experimenten belegten Wissenschaftler nach und nach, dass nicht nur Menschen, sondern auch andere biologische Arten solche Begabungen haben. Gleichzeitig wurde sichtbar, wie sich unsere eigenen Fähigkeiten einst entwickelten. Buschhäher wissen, dass ihre Artgenossen Diebe sind und dass eingelagertes Futter faulen kann; Schafe erkennen Gesichter; Schimpansen stochern mit angepassten Werkzeugen in Termitenbauten und benutzen sogar Waffen für die Jagd; Delfine ahmen die Körperhaltung von Menschen nach; Schützenfische lernen durch Beobachten erfahrener Artgenossen, wie man mit einem Wasserstrahl aus dem Maul gezielt Insekten aus den Büschen schießt. Und der Papagei "Alex" verblüffte als guter Redner.
30 Jahre lang erteilten Pepperberg und ihre Assistenten ihm Sprachunterricht. Die Menschen und zwei jüngere Papageien dienten "Alex" auch als Ersatz für einen natürlichen Schwarm und sorgten für das notwendige soziale Leben. Seinen Artgenossen gegenüber verhielt "Alex" sich dominant, zu Pepperberg war er manchmal mürrisch; er tolerierte andere Frauen und verlor einmal völlig die Fassung, als ein männlicher Assistent vorbeikam. "Wären Sie ein Mann", sagte Pepperberg, als sie bei meinem Besuch im vorigen Jahr sah, wie reserviert sich "Alex" mir gegenüber verhielt, "säße er längst auf Ihrer Schulter und würde Ihnen freundschaftlich Cashewkerne ins Ohr stecken."
"Alex" konnte 100 englische Wörter nachahmen
Pepperberg hatte den Papagei in einer Tierhandlung in Chicago gekauft. Sie ließ den Verkäufer einen Vogel aussuchen, damit andere Wissenschaftler später nicht behaupten konnten, sie habe sich für ihre Arbeit gezielt ein besonders schlaues Tier herausgepickt. Das Gehirn von "Alex" ist gerade mal so groß wie eine Walnuss in der Schale, und die meisten ihrer Kollegen waren überzeugt, dass Pepperberg sich vergeblich um artübergreifende Verständigung bemühen würde. "Man hielt Schimpansen für bessere Versuchsobjekte", sagt sie, "aber Schimpansen können nicht sprechen."
Andere hatten Schimpansen, Bonobos und Gorillas schon beigebracht, sich durch Gebärden und Symbole mit uns zu verständigen, oft mit beeindruckenden Erfolgen. Der Bonobo "Kanzi" zum Beispiel trägt seine Symboltafel immer mit sich herum, so dass er durch Zeigen mit seinen Betreuern "reden" kann. Er hat auch eigene Symbolkombinationen erfunden, um seine Gedanken auszudrücken. Aber das ist etwas anderes, als wenn ein Tier uns ansieht und spricht. Pepperberg ging im Zimmer nach hinten, wo "Alex" auf seinem Käfig saß und sich das perlgraue Gefieder putzte. Als sie näher kam, hielt er inne und riss den Schnabel auf.
"Will Traube", sagte "Alex" auf Englisch.
"Er hat noch nicht gefrühstückt", erklärte Pepperberg.
"Alex" fuhr fort, sich zu putzen, während eine Assistentin ihm eine Schüssel mit Weintrauben, grünen Bohnen, Apfel- und Bananenscheiben und einem Maiskolben fertigmachte. Unter Pepperbergs geduldiger Anleitung hatte "Alex" gelernt, mit seinen Stimmorganen fast 100 englische Wörter nachzuahmen, darunter auch die für alle diese Obst- und Gemüsesorten. Äpfel nannte er allerdings ban-erry.
"Äpfel schmecken für ihn ein wenig wie Bananen (banana) und sehen aus wie Kirschen (cherry), deshalb hat er daraus ein einziges Wort gemacht", sagte Pepperberg.
"Alex" konnte auch bis sechs zählen und hatte die Wörter für "sieben" und "acht" schon gelernt. "Ich bin mir sicher, dass er beide Zahlen schon kennt", sagte Pepperberg, "aber bis er bestimmte Laute aussprechen kann, braucht er viel länger, als ich früher dachte."
Nach dem Frühstück putzte sich "Alex" wieder und behielt seinen Schwarm im Auge. Ab und zu beugte er sich vor und öffnete den Schnabel: "Ssse...won."
"Gut, 'Alex'", erwiderte Irene Pepperberg. "Seven. Die Zahl heißt Seven, Sieben."
"Ssse...won! Ssse...won!"
"Er übt", erklärte sie. "Das ist seine Art zu lernen. Er denkt darüber nach, wie er dieses Wort sagen soll, wie er mit seinen Stimmorganen den korrekten Laut erzeugt."
"Good boy! Good birdie!"
Es hört sich verrückt an: Ein Vogel soll seine Lektionen üben und ist tatsächlich dazu bereit. Aber wenn man "Alex" gesehen und gehört hat, fällt es schwer, Pepperbergs Ansichten über sein Verhalten zu bezweifeln. Sie gab ihm keine Belohnungen für wiederholte Anstrengungen und forderte ihn auch nicht sichtlich dazu auf.
"Er muss die Wörter immer und immer wieder hören, nur dann kann er sie richtig nachmachen ", sagte Pepperberg, nachdem sie ihm ein gutes Dutzend Mal hintereinander "Seven" vorgesprochen hatte. Zu mir gewandt, fügte sie hinzu: "Es geht mir nicht darum zu sehen, ob 'Alex' die Sprache der Menschen lernen kann. Das war nie der Punkt. Ich wollte immer nur seine Nachahmungsfähigkeit nutzen, um seine Fähigkeit zu denken besser zu verstehen."
Mit anderen Worten: Weil "Alex" Laute hervorbringen konnte, die englischen Wörtern stark glichen, hatte Pepperberg die Möglichkeit, ihn nach bestimmten Dingen zu fragen. Sie konnte sich zwar nicht danach erkundigen, was er dachte, aber sie konnte etwas darüber in Erfahrung bringen, was er über Zahlen, Farben und Formen wusste. Das führte sie mir vor: Sie trug "Alex" auf dem Arm zu einer hölzernen Sitzstange in der Mitte des Zimmers. Dann nahm sie einen grünen Schlüssel und eine kleine grüne Tasse aus einem Korb und hielt "Alex" beide Gegenstände unter die Nase.
"Was ist gleich?", fragte sie.
"Co-lor", antwortete "Alex" ohne zu zögern. Farbe.
"Was ist verschieden?"
"Shape", sagte "Alex", Form.
Seine Stimme klang mechanisch. Papageien haben keine Lippen ein Grund auch, warum "Alex" Schwierigkeiten mit der Aussprache von Silben hatte, die mit einem "B" oder "P" beginnen. Die Wörter schienen aus der Luft in seiner Umgebung zu kommen, als würde ein Bauchredner sprechen. Aber die Wörter und, man kann es nicht anders nennen: die Gedanken kamen ausschließlich von ihm.
Während der folgenden 20 Minuten unterzog sich "Alex" mehreren Prüfungen: Er musste zwischen Farben, Formen, Größen und Materialien (Wolle, Holz, Metall) unterscheiden. Er hatte ein paar Rechenaufgaben zu lösen und sollte die Zahl der gelben Klötze in einem Stapel verschiedenfarbiger Bausteine nennen. Und am Ende meldete sich "Alex" selber zu Wort, so als wolle er den letzten Beweis für den Geist in seinem Vogelgehirn erbringen: "Talk clearly!", "Sprich deutlich!", kommandierte er, als einer der jüngeren Papageien, denen Pepperberg ebenfalls das Sprechen beibringt, das Wort "green" nicht richtig artikulierte.
"Nun spiel mal nicht den Klugscheißer", ermahnte ihn Pepperberg. "Er kennt das alles schon und langweilt sich, deshalb unterbricht er die anderen. Oder er gibt dann aus Widerwillen falsche Antworten. Manchmal ist er auch einfach launisch, und man weiß nie genau, was er als Nächstes anstellt."
"Wanna go tree" klagte "Alex" mit dünner Stimme, "Will zum Baum!". Der Papagei hatte sein ganzes Leben in Gefangenschaft verbracht, aber er wusste, dass es jenseits der Labortüren einen Flur, ein großes Fenster und dahinter eine Ulme mit dichtem Blattwerk gab. Er wollte den Baum sehen. Pepperberg streckte die Hand aus, so dass er an ihr hochklettern konnte. Sie ging mit ihm durch den Flur in das grüne Licht des Baumes. "Good boy! Good birdie", sagte "Alex" und wippte auf ihrer Hand auf und ab. "Ja, du bist ein braver Junge. Ein braves Vögelchen", erwiderte Pepperberg und küsste ihn auf die gefiederte Stirn.
Vieles, was dieser Papagei an kognitiven Fähigkeiten zeigte, zum Beispiel das Verständnis für die Begriffe "gleich" und "verschieden", wird im Allgemeinen nur höheren Säugetieren und speziell den Primaten zugeschrieben. Aber wie Menschenaffen (und Menschen), so leben auch Papageien ein langes Leben in komplexen Gesellschaften. Wie Primaten, so müssen auch die Vögel den ständigen Wandel in ihren Beziehungen und in ihrer Umwelt verarbeiten können.
"Das geht weit darüber hinaus, an Farben unterscheiden zu können, ob eine Frucht reif oder unreif ist, was essbar ist und was nicht", sagte Pepperberg. "Ein Zahlenverständnis ist hilfreich, um den eigenen Schwarm zu beurteilen, und wenn man wissen will, wer allein ist und wer bereits einen Partner hat. Instinkt allein reicht einem Vogel mit langer Lebensdauer dafür nicht. Das geht nicht ohne Kognition."
Für Darwin gab es Abstufungen von Intelligenz
Die geistige Fähigkeit, die Welt in abstrakte Kategorien einzuteilen, ist sicher für viele Lebewesen nützlich. Gehört sie demnach zu den Triebkräften der Evolution, die am Ende zur Intelligenz der Menschen führte?
Schon Charles Darwin wollte die Entstehung unserer Intelligenz erklären und wandte seine Evolutionstheorie deshalb auch auf das Gehirn des Menschen an. Seine Überlegung: Wie unsere gesamte Erscheinung muss sich auch die Intelligenz aus den geistigen Fähigkeiten einfacherer Lebewesen entwickelt haben, denn alle Tiere haben es im Leben mit den gleichen grundsätzlichen Herausforderungen zu tun. Sie müssen Partner, Nahrung und einen Weg durch Wald, Meer oder Luft finden.
Dazu, so Darwin, braucht man die Fähigkeit, Probleme zu lösen und Kategorien abzugrenzen. Darwin vermutete sogar bei Regenwürmern eine Art Denkleistung, weil er durch eingehende Beobachtungen zu dem Schluss gelangt war, dass sie sich entscheiden, mit welchem Blattmaterial sie ihre Tunnel verschließen. Er hatte nicht damit gerechnet, denkendes Kriechgetier zu finden, und bemerkte, die Anhaltspunkte für die Intelligenz der Regenwürmer hätten ihn "mehr überrascht als alles andere bei den Würmern".
Für Darwin war damit klar, dass man Abstufungen von Intelligenz überall im Tierreich finden kann. Doch im 20. Jahrhundert wurde diese Sichtweise zeitweilig an den Rand gedrängt: Nun herrschte unter Wissenschaftlern die Meinung vor, Freilandbeobachtungen seien nur "Anekdoten" und in der Regel durch die menschliche Perspektive verfälscht.
Viele Fachleute wandten sich dem Behaviorismus zu, der in Tieren kaum etwas anderes sieht als instinktgesteuerte Maschinen. Im Labor konzentrierte man sich beinahe ausschließlich auf weiße Ratten als Versuchstiere, denn man nahm an, dass sich eine "Tier-Maschine" genauso verhalten würde wie jede andere. Doch wie wäre dann die Entstehung der menschlichen Intelligenz zu erklären? Nicht ohne Darwins Sichtweise, wonach die Evolution auch geistige Leistungen betrifft. Inzwischen legen Experimente mit vielen Arten nahe, dass die Wurzeln der Kognition weit zurückreichen und sehr verbreitet sind.
Am besten kann man das vielleicht an den Hunden nachvollziehen. Die meisten Hundehalter reden mit ihren Tieren und glauben, dass sie verstanden werden. Aber die Erkenntnis, dass Hunde wirklich verstehen können, setzte sich erst 1999 vollständig durch: Damals trat ein Border-Collie namens "Rico" in der Fernsehshow "Wetten, dass ..." auf. Der Collie kannte die Namen von 77 Spielzeugen; bis 2004 lernte er 120 weitere dazu.
Intelligenz ist nicht für Primaten oder Säugetiere reserviert
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig erfuhren von "Rico" und testeten ihn. Das Ergebnis war ein wissenschaftlicher Aufsatz, in dem über "Ricos" geradezu gespenstische Lernfähigkeit für Sprache berichtet wurde: Er speicherte Wörter so schnell wie ein Kleinkind. Die Max-Planck-Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass der Hund zum Erlernen der Wörter prinzipiell die gleichen angeborenen Fähigkeiten nutzt wie ein Mensch.
Dann gingen die Forscher Hunderten von Briefen nach, in denen behauptet wurde: "Unser Hund ist so schlau wie "Rico"." Doch nur zwei verfügen über vergleichbare Fähigkeiten, und beide sind ebenfalls Border-Collies. Einer eine Hündin namens "Betsy" hat einen Wortschatz von mehr als 300 Wörtern.
"Was "Betsy" kann, schaffen nicht einmal Menschenaffen. Sie braucht ein Wort nur ein- oder zweimal zu hören, dann weiß sie, dass das Lautmuster etwas Bestimmtes bedeutet", sagt die Leipziger Kognitionsforscherin Juliane Kaminski, die schon mit "Rico" gearbeitet hat. Mit ihrem Kollegen Sebastian Tempelmann ist sie nach Wien gefahren, wo "Betsy" zu Hause ist. Sie wollen mit dem Hund neue Tests machen. Kaminski tätschelt "Betsy", während Tempelmann eine Videokamera aufbaut.
"Dass Hunde unsere menschliche Kommunikation verstehen, ist eine Neuerung der Evolution ", sagt Kaminski. "Es ist dazu gekommen, weil sie schon so lange mit Menschen zusammenleben. Collies sind zudem hoch motivierte Arbeitstiere, eigens als Hütehunde gezüchtet und mit Aufgaben betraut, für die sie sehr genau auf ihren Besitzer hören müssen."
"Betsy": Abstraktionsfähigkeit ähnlich der von Menschen
Die Gemeinschaft von Menschen und Hunden ist rund 15.000 Jahre alt eigentlich eine kurze Zeit für die Evolution von Sprachverständnis. Wie weit reichen die Gemeinsamkeiten von Mensch und Hund wirklich? Wir benutzen Symbole zum abstrakten Denken: Ein Ding (zum Beispiel ein Foto) steht für ein anderes (ein Objekt). Kaminski und Tempelmann wollten wissen, ob auch Hunde dazu in der Lage sind, den gesprochenen Namen für ein Ding auf einem Foto auf das abgebildete Objekt zu übertragen.
"Betsys" Besitzerin sie bevorzugt das Pseudonym "Frau Schäfer" ruft, und die Hündin legt sich zu ihren Füßen. Wenn ihr Frauchen spricht, neigt sie den Kopf hin und her.
Kaminski gibt Frau Schäfer einen Stapel farbiger Fotos und bittet sie, eines auszuwählen. Jedes Bild zeigt ein Spielzeug vor weißem Hintergrund. Der Hund hat diese Gegenstände nie zuvor gesehen. Es sind keine echten Spielzeuge, sondern Fotos von Spielzeugen. Kann "Betsy" eine Verbindung zwischen einer zweidimensionalen Abbildung und einem dreidimensionalen Ding herstellen? Frau Schäfer hält das Bild eines Frisbee in Regenbogenfarben hoch und fordert "Betsy" auf, danach zu suchen. Die Hündin schaut auf das Foto, schaut in Frauchens Gesicht und rennt in die Küche, wo das Frisbee zwischen drei anderen Spielzeugen und Fotos der Spielzeuge liegt. In mehreren Versuchen bringt sie jedes Mal entweder das Frisbee oder das Foto des Frisbee.
"Es wäre auch nicht falsch, wenn sie jedes Mal das Foto bringen würde", erklärt Kaminski. "Ich vermute aber, "Betsy" kann einen Gegenstand anhand eines Fotos finden, auch wenn man keinen Namen dafür nennt. Um das zu beweisen, müssen wir aber noch mehr Versuche mit ihr anstellen."
Selbst wenn es so wäre: Juliane Kaminski ist nicht sicher, ob sich andere Wissenschaftler ihrer Meinung anschließen: "Betsys" Abstraktionsfähigkeit käme der des Menschen schon sehr nahe. Natürlich bleibt der Homo sapiens die innovativste Spezies. Keine andere Tierart hat Wolkenkratzer gebaut, Sonette geschrieben oder Computer konstruiert. Andererseits sind die Zoologen heute überzeugt, dass Kreativität und andere Formen der Intelligenz nicht aus dem Nichts gekommen sind. Auch sie sind durch Evolution entstanden.
Zunächst waren ja auch viele überrascht, als man entdeckte, dass Schimpansen Werkzeuge herstellen", sagt der Verhaltensökologe Alex Kacelnik von der Universität Oxford. Er meint die Strohhalme und Stöckchen, die Schimpansen zurechtmachen, um damit Termiten aus ihrem Bau zu angeln. "Dann sagten sich die Leute: 'Na ja, wir haben relativ junge gemeinsame Vorfahren; da müssen sie ja schlau sein.' Jetzt aber stellt sich heraus, dass auch manche Vogelarten Werkzeuge herstellen, und unser letzter gemeinsamer Ahn mit den Vögeln war eine Echse, die vor mehr als 300 Millionen Jahren lebte."
Für Kacelnik ist die Schlussfolgerung klar: "Es bedeutet, dass die Evolution mehrmals ähnliche Formen einer hoch entwickelten Intelligenz hervorgebracht hat. Intelligenz ist nicht für Primaten oder Säugetiere reserviert."
Kacelnik beschäftigt sich mit so einem cleveren Federvieh: mit der Neukaledonienkrähe, die in den Wäldern dieser pazifischen Inseln lebt. Der Vogel verblüfft durch seine Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen und zu benutzen. Er fertigt aus Stöckchen und Blattstielen Sonden und Haken, mit denen er in den Kronen von Palmen nach versteckten Maden stochert.
Nun könnte es sein, dass die Werkzeugbenutzung der Krähen vererbten Regeln folgt. Von Schimpansen weiß man, dass sie kreativ sind, dass sie ihre Werkzeuge den Erfordernissen anpassen. In freier Wildbahn benutzen sie bis zu vier unterschiedlich lange Stöckchen, um den Honig aus einem Bienenstock zu fischen. In Gefangenschaft finden sie heraus, wie sie mehrere Kisten zu stapeln haben, damit sie an eine von der Decke hängende Banane herankommen. Können die Neukaledonienkrähen da mithalten? Wie soll man das bei diesen scheuen Vögeln testen? Selbst nach jahrelangen Freilandbeobachtungen waren die Wissenschaftler nicht sicher, ob die Fähigkeit bei den Vögeln angeboren ist oder ob sie sich gegenseitig beobachten und dadurch lernen. Und falls die Begabung angeboren ist, können die Krähen sie dann auch anders und kreativ nutzen?
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden: Kacelnik und seine Studenten brachten 23 Krähen, die mit einer Ausnahme in freier Wildbahn gefangen wurden, in das Gehege ihres Instituts und warteten auf Nachwuchs. Die Jungvögel wurden sobald wie möglich von den erwachsenen Tieren getrennt, so dass sie keine Gelegenheit hatten, den Werkzeuggebrauch zu lernen. Doch kaum waren sie flügge, benutzten sie Stöckchen, um damit eifrig in Ritzen zu stochern. Sie gestalteten auch Werkzeuge aus verschiedenen Materialien.
"Nun wussten wir, dass zumindest die Grundlagen des Werkzeuggebrauchs bei den Krähen erblich sind", sagt Kacelnik. "Es stellte sich die Frage: Was können sie sonst noch mit Werkzeugen anfangen?" Eine ganze Menge.
Kacelnik zeigt mir ein Video von einem Test, den er mit "Betty", einer der in freier Wildbahn gefangenen Krähen, gemacht hat. In dem Film fliegt "Betty" in ein Zimmer. Sie erspäht sofort ein schmales Glasrohr, in dem ein Körbchen mit einem Stück Fleisch liegt. Die Wissenschaftler haben zwei Stücke Draht in das Zimmer gelegt. Der eine ist gerade, der andere zu einem Haken gebogen. Wird die Krähe den Haken wählen und den Korb damit am Griff nach oben aus der Glasröhre ziehen?
Doch das Experiment verläuft nicht nach Plan. Eine andere Krähe klaut den Haken, ehe "Betty" ihn finden kann. Sie starrt auf das Fleisch in dem Körbchen in dem Rohr. Dann fällt ihr der gerade Draht ins Auge. Sie greift ihn mit dem Schnabel, steckt ein Ende in eine Fußbodenritze und biegt das andere mit dem Schnabel zu einem Haken. Augenblicke später zieht sie den Korb aus dem Rohr.
"Es war das erste Mal, dass diese Krähe überhaupt so einen Draht gesehen hat", sagt Kacelnik. "Dennoch wusste sie, dass sie daraus einen Haken machen kann und wo und wie sie ihn biegen muss, damit er passt."
"Betty" löste auch andere Aufgaben. Einmal formte sie einen Haken aus einem flachen Stück Aluminium. "Das heißt, sie verfügt über ein mentales Abbild von dem Gegenstand, den sie herstellen will. Das lässt auf hoch entwickelte Kognitionsfähigkeit schließen", sagt Kacelnik.
Die allgemeinere Lehre der Forschung an Tieren lautet: Wir sollten bescheidener sein. Wir sind nicht die Einzigen, die erfinden und planen. Oder andere austricksen und anlügen.
Täuschung erfordert eine komplizierte Form des Denkens: Man muss in der Lage sein, einem anderen Absichten zu unterstellen und sein Verhalten vorherzusehen. Neben dem Menschen können das Schimpansen, Orang-Utans, Gorillas und Bonobos. Primatenforscher haben in freier Wildbahn beobachtet, wie rangniedere Menschenaffen Nahrung vor dem Boss verstecken oder sich hinter seinem Rücken an die Weibchen heranmachen.