Kaltwasserkorallen Bedrohte Biotope in der Finsternis
Die Korallen strahlen in Weiß und Rot. Fische, Seesterne und Krebse bewegen sich zwischen den verästelten Kalkskeletten - ein Riff, Oase im Ozean. Doch dieses Riff erstrahlt nur im Scheinwerferlicht eines Tauchboots farbenfroh. Sonst liegt es in der Finsternis der Tiefe, in kühlem Wasser, das niemals wärmer als 13 Grad wird. Kaltwasser-Korallenriffe sind die Stiefgeschwister tropischer Schnorchelattraktionen - aber sie spielen offenbar eine zentrale Rolle für das Leben unter Wasser.
Doch kaum entdeckt, droht den kühlen Riffen schon die Vernichtung. Industrielle Tiefseefischerei könnte die Biotope zerstören, bevor sie richtig erforscht werden, warnen Wissenschaftler. Ohne neue Tauchroboter und wendige Forschungs-U-Boote wären die Riffe wohl bis heute ein Geheimnis in der Finsternis geblieben.
"Richtig zugänglich geworden ist uns diese Tiefe erst in den letzten 10 bis 15 Jahren durch neue Tauchboote und autonome Tauchroboter", sagt Karen Hissmann vom Forschungszentrum IFM-Geomar in Kiel. "Warmwasserriffe sind da natürlich viel zugänglicher." Anders als ihre tropischen Pendants dicht unter der Wasseroberfläche beginnen die meisten Riffe aus Kaltwasserkorallen erst unterhalb von 200 Metern. Der Lebensraum kann sich bis unter 1200 Meter erstrecken. "Da geht man nicht mal eben so zu Fuß hin", sagt Hissmann.
Noch sind die Wissenschaftler damit beschäftigt, die Vorkommen der kühlen Biotope zu kartieren. In einem lockeren Gürtel ziehen sich Kaltwasserkorallen vom Nordkap entlang der Kante des Kontinentalschelfs bis nach Mauretanien, rund 4000 Kilometer weit - soviel ist bereits bekannt. An den Rändern der Schelfe anderer Kontinente vermuten Forscher vergleichbare Vorkommen.
Globales Ökosystem in der Finsternis
"Das ist ein globales Ökosystem und bildet in vielen Bereichen Riffe, die mehrere Dutzend Meter hoch und kilometerlang werden können", sagt André Freiwald, Paläontologe an der Universität Erlangen und einer der weltweit führenden Experten für Kaltwasserkorallen, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.
Im Wissenschaftsmagazin "Science" fasst Freiwald mit seinem Kollegen John Murray Roberts von der Scottish Association for Marine Science in Oban den aktuellen Forschungsstand zusammen: Im Vergleich zu ihren tropischen Pendants seien die Kaltwasserkorallenriffs kaum erforscht. "Dabei handelt es sich um die wohl räumlich komplexesten Lebensräume in der Tiefsee", schreiben die Forscher. Als Laichgrund, Kinderstube vieler Fischarten und "Hotspot der Artenvielfalt", spielten die Riffe eine wichtige Rolle im Lebenskreislauf in der Tiefe, sagt Freiwald.
Während tropische Korallen vom Austausch mit Fotosynthese-treibenden Algen leben, ernähren sich ihre Kollegen in der Tiefsee anders: Mit winzigen Tentakeln fangen die Tiere Plankton ein. Deshalb können sie nur leben, wo felsiger Untergrund und nährstoffreiche Strömungen zusammenkommen - in unterseeischen Schluchten, an Hängen und Verwerfungen.
Empfindliche Biotope werden umgepflügt
"Dort zu forschen ist nicht wie über den flachen Meeresboden zu fahren. Über einem Kaltwasserkorallenriff muss man ein Forschungsschiff auf den Meter genau navigieren und stillhalten können", erklärt Freiwald. Darum sei die Erforschung der kühlen, tiefen Riffe ohne das Satellitennavigationssystem GPS auch nicht denkbar.
Der technische Fortschritt droht aber auch, den Biotopen zum Verhängnis zu werden - noch bevor sie richtig erforscht sind. Seit etwa 1985 ist die Hochseefischerei in der Lage, mit Bodenschleppnetzen bis zu 1500 Meter tief zu fischen. Spätestens seit Mitte der neunziger Jahre wird dies in großem Stil praktiziert. Seitdem ist der Lebensraum der Kaltwasserkorallen nicht mehr sicher. Die mit schweren Rollen und Metallschilden besetzten, oft 50 Meter breiten Netze würden den Untergrund regelrecht umpflügen, meint Freiwald: "Das ist so, als würde man eine Straße quer durch einen Wald bauen."
Drei weitere Bedrohungen des fragilen Ökosystems beunruhigen die Wissenschaftler:
- Übersäuerung: Der Kohlendioxidgehalt im Meerwasser steigt rasant. Bald, haben britische Klimaforscher errechnet, dürfte er so hoch sein wie seit der Zeit der Dinosaurier nicht mehr. Kaltwasserkorallen sind durch diese Übersäuerung noch bedrohter als ihre tropischen Cousins.
- Überfischung: Die Zusammenhänge zwischen den kühlen Riffen und der Fauna im offenen Wasser sind bislang kaum erforscht. Dass viele Arten - zumindest teilweise - in den und um die Kaltwasserkorallen herum leben, weiß man aber heute schon. Gehen die Bestände drastisch zurück, könnten das auch die Riffe spüren.
- Bohrungen: Die Gefahr, die von der Öl- und Gasförderung ausgeht, ist nach Einschätzung von Roberts und Freiwald weniger dramatisch. Forscher streiten aber darüber, wie die Verunreinigungen die Korallen beeinflussen.
Die kühlen Biotope zu erhalten, könnte der Menschheit noch einen ganz anderen Vorteil bringen: Manche Kaltwasserkorallenriffe fungieren als Klimaarchiv. An den Rändern der Kontinentalschelfe werden große Mengen Sedimente in die Tiefsee gespült. Riffe halten diese Sedimente fest und begraben sie gleichsam unter sich.
Während tropische Korallen in ihren Kalkschalen Klimadaten von ein paar hundert Jahren einschließen können, archivieren die kalten Cousins ein Vielfaches. Unter deutscher Beteiligung bohrten Forscher des Integrated Ocean Drilling Project (IODP) vergangenes Jahr mit dem Bohrschiff "JOIDES Resolution" ein 150 Meter hohes Kaltwasserkorallenriff an. Ihre Ausbeute: Sedimente mit Klimadaten von zwei Millionen Jahren.