Klimawandel "Die Industrieländer stecken tief in der CO2-Insolvenz"

Ist die Wende im Klimaschutz noch zu schaffen? Nur noch drastische Maßnahmen können eine Katastrophe verhindern, glaubt Hans Joachim Schellnhuber. Der oberste Umweltberater der Bundesregierung fordert ein festes CO2-Budget für jeden Menschen - egal, ob er in Deutschland oder Dschibuti lebt.
Fabrikabgase (in Australien): Forscher verlangen drastische Verstärkung des Klimaschutzes

Fabrikabgase (in Australien): Forscher verlangen drastische Verstärkung des Klimaschutzes

Foto: MICK TSIKAS/ REUTERS

SPIEGEL ONLINE: Herr Schellnhuber, die Erderwärmung soll auf zwei Grad beschränkt werden - so lautet das Ziel für den Uno-Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember. Wie lässt sich das machen?

Schellnhuber: Indem sich die Menschheit auf eine feste Menge Kohlendioxid beschränkt, die bis zur Mitte der Jahrhunderts noch in die Atmosphäre entsorgt wird. Im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) haben wir nun einen Kassensturz vorgenommen und ermittelt, wer noch wie viel Kohlendioxid freisetzen darf, um die Zwei-Grad-Grenzlinie zu halten. Die Ergebnisse sind ernüchternd.

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Schellnhuber: Weil die Industriestaaten ihre CO2-Budgets eigentlich schon überzogen haben, wenn man ihre historischen Emissionen berücksichtigt. Will man das Zwei-Grad-Ziel mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei zu drei erreichen, stehen noch 750 Milliarden Tonnen CO2 zur Verfügung, bei einer Wahrscheinlichkeit von drei zu vier nur 660 Milliarden Tonnen. Wir rechnen diese Mengen auf alle Menschen um und vergleichen sie mit dem aktuellen Ausstoß. Dabei kommt heraus, dass Deutschland, die USA und andere Industriestaaten ihre Budgets entweder bereits heute aufgebraucht haben oder binnen weniger Jahre aufgebraucht haben werden.

SPIEGEL ONLINE: 750 Milliarden Tonnen, das klingt erst einmal gewaltig.

Schellnhuber: Ist es aber nicht. Danach kann jeder Erdenbürger zwischen 2010 und 2050 nur noch Emissionen von 110 Tonnen CO2 verursachen. Ein Deutscher emittiert im Jahresschnitt elf Tonnen, sein Budget wäre also in zehn Jahren aufgebraucht. Schon die Wahrscheinlichkeit, das Ziel zu erreichen, ist in unseren Berechnungen relativ gering angesetzt. Wer würde Russisch Roulette spielen mit einem Revolver, der sechs Kammern hat, von denen zwei geladen sind? Und die Gesamtmenge CO2, die zur Verfügung steht, ist sehr niedrig im Vergleich zu dem, was aktuell aus Kraftwerken, Autos und Industriebetrieben in die Luft gepustet wird. Bei den Emissionswerten wie 2008 hätten sogar die Chinesen ihr Budget schon in 24 Jahren erschöpft, also weit vor 2050.

SPIEGEL ONLINE: Warum verteilen Sie die CO2-Emissionen gleichmäßig auf alle Menschen, wo doch heute große Ungleichheiten bestehen?

Schellnhuber: Unser Ausgangspunkt ist, dass jeder Mensch gleiches Anrecht auf die Nutzung der Atmosphäre hat. Das ist ein elementares Gerechtigkeitsprinzip. So haben es vor zwei Jahren auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und der indische Premierminister Manmohan Singh gefordert. Warum sollte ein Deutscher mehr CO2-Emissionen verursachen dürfen als jemand in Bangladesch? Es gilt, die CO2-Menge, die bis 2050 verbleibt, gerecht zwischen allen Ländern aufzuteilen.

SPIEGEL ONLINE: Aber in Deutschland muss man an mehr Tagen im Jahr heizen als in wärmeren Ländern.

Schellnhuber: Und in den heißen Ländern will man kühlen, was auch sehr viel Energie verbraucht. In Neu-Delhi herrschten in diesem Sommer wieder monatelang Temperaturen über 45 Grad Celsius - da könnte man mit dem gleichen Recht ölbefeuerte Klimaanlagen fordern, wenn wir bedenken, wie viel wir hierzulande im Winter heizen.

SPIEGEL ONLINE: Was folgt aus den Berechnungen des WBGU?

Schellnhuber: Das Reduktionsziel von 25 bis 40 Prozent gegenüber 1990, das im Augenblick bei den Uno-Klimaverhandlungen für die Industrieländer gehandelt wird, ist nicht ehrgeizig genug. Deutschland etwa peilt bis 2020 minus 40 Prozent gegenüber 1990 an, 60 Prozent wären aber angebracht, was einer Halbierung im Vergleich zu heute entspricht. Die Industrieländer stecken schon tief in der CO2-Insolvenz. Das bedeutet, dass sie ihre Klimaschutzanstrengungen drastisch nach oben fahren müssen. Sonst verbrauchen sie die CO2-Mengen, die eigentlich den Entwicklungsländern und künftigen Generationen zustehen würden.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es keinen Ausweg?

Schellnhuber: In unserem Sondergutachten beschreiben wir einen Ausweg. Der WBGU hat bei seinen Berechnungen auch Länder gefunden, die deutlich weniger verbrauchen, als ihnen zustehen würde. Das sind die ärmsten Länder der Welt, denen im Klimaschutz der Zukunft eine zentrale Rolle zukommt. Sie bewahren uns vor einem noch schnelleren Klimawandel. Das muss endlich honoriert werden. Deshalb schlagen wir vor, dass Industrieländer, die mehr CO2 ausstoßen wollen als ihnen zusteht, künftig von diesen ärmsten Ländern Emissionsrechte kaufen müssen. Mit den Einnahmen könnten diese dann den Sprung in eine umweltfreundliche, dynamische Wirtschaftsentwicklung finanzieren.

SPIEGEL ONLINE: Die Industrieländer müssen massiv bezahlen?

Schellnhuber: Ja. Es geht um Summen von bis zu hundert Milliarden Euro jährlich. Wenn das reiche Sechstel der Weltbevölkerung diese Zahlungen leisten würde, wären das pro Kopf und Jahr hundert Euro. Wir würden einen Teil des Wohlstands, den wir über die Jahrhunderte dem Süden entnommen haben, wieder zurückgeben und würden zu CO2-Schuldnern der Länder, die bisher als die Habenichtse dieser Welt gelten. Es müsste aber sichergestellt werden, dass die armen Länder das Geld zweckgebunden einsetzen, um sich zu modernisieren und den sofortigen Übergang in eine grüne Wirtschaftsweise zu schaffen. Das würde ihnen den ökonomischen Anschluss an die Welt von morgen verschaffen und den Industrieländern große Probleme ersparen.

SPIEGEL ONLINE: Schon bisher ist es schwierig, Geld für Klimaschutz zu mobilisieren.

Schellnhuber: Es kommt aber viel teurer, alles so laufen zu lassen wie bisher. Die Summen klingen gigantisch, aber Investitionen in die Energieversorgung und die gesamte Infrastruktur stehen sowieso an. Es geht nur darum, wie klimafreundlich oder klimaschädlich sie ausfallen, die Mehrkosten einer grünen Entwicklung sind vergleichsweise gering. Besonders für Deutschland mit seiner Stärke in den Umwelttechnologien gibt es enorme ökonomische Entwicklungspotentiale, durch die ein Großteil der Geldtransfers wieder ins Land zurückfließen könnte. Das ist eine goldene Gelegenheit, den Lauf der Dinge noch zu ändern. Wenn man die Folgekosten des Klimawandels einrechnet, kommen wir sogar billig weg.

SPIEGEL ONLINE: Die Deutschen brüsten sich damit, Klimaschutzweltmeister zu sein. Zu Recht?

Schellnhuber: Deutschland steht relativ gut da, aber es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen und zu warten, bis die anderen aufholen. Wir haben unser Soll noch lange nicht erfüllt.

SPIEGEL ONLINE: Rechnen Sie mit Unterstützung von Bundeskanzlerin Angela Merkel für Ihr Konzept?

Schellnhuber: Wir haben eigentlich nur zusammengeführt, was die Bundeskanzlerin längst gesagt hat. Sie will das Zwei-Grad-Ziel, den Emissionshandel und gleiches Recht auf CO2-Emissionen für alle Menschen. Das haben wir nun in einer schlüssigen Berechnung umgesetzt. Dass Deutschlands CO2-Budget bei den derzeitigen Emissionsraten schon in zehn Jahren ausgeschöpft sein wird, kann nur eines bedeuten: Die nächste Bundesregierung muss sofort ein hartes Klimaschutzpaket anpacken. Ökonomisch hilft uns das, denn wir werden die Technologien von morgen dann noch schneller entwickeln.

SPIEGEL ONLINE: Sind die Berechnungen nicht trotzdem hoffnungslos idealistisch, wenn man sich anschaut, wie langsam die Uno-Klimaverhandlungen verlaufen?

Schellnhuber: Der WBGU betreibt keine Politik, wir beraten Regierung und Öffentlichkeit auf der Grundlage unserer wissenschaftlichen Einsichten. Unser Budget-Ansatz hat leider gerade nichts mit einer Utopie zu tun, sondern mit der Anerkennung der physikalischen Voraussetzungen zur Bewahrung unserer Hochzivilisation. In erster Linie stellen wir einen Kompass zur Verfügung, der den Verhandlern anzeigt, ob sie sich überhaupt auf einem Kurs aus der Klimakrise befinden. Nicht utopisch, sondern außerordentlich realistisch ist in diesem Zusammenhang die Annahme, dass man Indien oder Afrika nicht sagen kann: Wartet gefälligst mit eurer Entwicklung noch einmal hundert Jahre; dann haben wir unser Emissionsproblem vielleicht im Griff.

Das Interview führte Christian Schwägerl

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