Klimawandel in den Alpen Kunstschnee mit Kollateralschäden

Mit Kunstschnee dem Klimawandel trotzen? Geoforscher warnen vor einem massiven Einsatz von Schneekanonen in den Alpen, der Wasserhaushalt und Flora durcheinander bringt. Für verzweifelte Tourismusmanager der Noch-Skiorte haben die Wissenschaftler dennoch eine gute Nachricht.

Kunstschnee ist für Ulrich Strasser eigentlich eine feine Sache - jedenfalls wenn er als Skifahrer daran denkt: "Er ist dichter und fester und deshalb besser zum Carven." Doch als Wissenschaftler sieht er das künstliche Weiß mit etwas anderen Augen. Die Beschneiung ganzer Pisten verschlingt große Mengen Energie und Wasser - und gilt für den Geografen von der Ludwig-Maximilians-Universität München deshalb als problematische Option in Zeiten des Klimawandels.

Immer mehr Skiorte in den Alpen haben Schneekanonen installiert, damit auch in schneearmen Wintern der Rubel rollt. In Österreich werden bereits 50 Prozent aller Pisten künstlich beschneit, berichtet Christian Rixen vom Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung Davos. In Südtirol liegt der Anteil sogar schon bei 59 Prozent, in den Alpen insgesamt bei 30 Prozent.

Der Kunstschnee und seine Folgen - das ist eines der vielen Themen rund um den Klimawandel, das die Wissenschaftler derzeit in Wien auf dem Jahrestreffen der European Geosciences Union (EGU) diskutieren. Die Probleme sind schon länger bekannt. Vor anderthalb Jahren hatte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) eine Studie über die Folgen der Erderwärmung für die Alpen vorgelegt. Fazit: Im schlimmsten Fall sind zwei Drittel aller Skigebiete gefährdet.

Die bayerischen Orte könnte es fast komplett erwischen: Schon bei zwei Grad Temperaturanstieg sind 87 Prozent der Pisten zukünftig nicht mehr als schneesicher einzustufen. Als "schneesicher" definiert die OECD Orte, die pro Jahr an mindestens 100 Tagen eine Schneedecke von rund 30 Zentimetern aufweisen. In den Alpen sind das derzeit rund 600 Skigebiete. Nur ein Grad weitere durchschnittliche Erwärmung könnte ihre Zahl auf 500 mindern, warnt die OECD. Und jedes weitere Grad bedeutete das Aus für weitere 100 Skigebiete.

"Alles unter 1000 Metern Höhe ist zuerst betroffen", sagt Carmen de Jong von der französischen Université de Savoie. Später bekämen auch Gebiete ab 1200 Metern Probleme. Den Wintersport-Orten bleiben nicht viele Handlungsoptionen: "Die ganze Infrastruktur, etwa Lifte, muss in größerer Höhe neu aufgebaut werden - das ist extrem teuer", warnt die Forscherin.

In geringeren Höhen helfen nur noch Schneekanonen, die in manchen Orten im Dauerbetrieb laufen, sobald die Temperatur unter drei Grad unter Null sinkt. Um Schneemangel auszuschließen, wird soviel wie möglich auf Halde produziert. "Die Schneekanonen sind immer intelligenter geworden", erzählt de Jong. Wenn es kalt genug sei, aber der Wind zu stark, blieben sie aus. Perfektes Kunstschnee-Management.

Große Sorgen bereiten den Geoforschern allerdings die Auswirkungen der massiven Beschneiung. "Der Kunstschnee schmilzt zwei bis drei Wochen später", berichtet Rixen vom Davoser Institut für Schnee- und Lawinenforschung. Außerdem enthält Kunstschnee-Schmelzwasser etwa viermal mehr Mineralien und Nährstoffe als natürliches Schmelzwasser. Als Folge davon verändert sich der Bewuchs der Böden - Pflanzen mit höherem Nährstoffbedarf dominieren plötzlich.

Kunstschnee bringt auch den über Jahrtausende eingespielten Wasserhaushalt der Alpen durcheinander: Das ganze Jahr über muss Wasser in Reservoirs gesammelt werden. Ein beachtlicher Teil verdunstet dabei später oder beim Beschneien - und geht so verloren. Die in den Bergen angelegten künstlichen Teiche verändern den unterirdischen Wasserhaushalt, weil sie nach unten abgedichtet sind, damit das Wasser nicht versickert. Durch die verspätete Schmelze kommt es zudem zu Verschiebungen des Wasserflusses in den Tälern.

"Werden die Touristen mitspielen?"

Aber auch das Aussehen vieler Wintersport-Orte wird sich ändern, wenn die Durchschnittstemperaturen weiter steigen. Der einzige Schnee, den es mancherorts noch geben wird, wird der weiße Pistensteifen sein, der aus den Bergen kommend bis zum Einstieg in den Lift oder zur Seilbahnstation führt. "Werden die Touristen mitspielen?", fragt Carmen de Jong und wagt selbst eine Prognose. In größeren Orten werde der Kunstschnee womöglich leichter akzeptiert als in kleineren Skigebieten.

Die Frage - ob Kunstschnee oder nicht - ist auch eine ökonomische: "Es dauert 15 bis 20 Jahre bis sich Schneekanonen rechnen", sagt de Jong. Man solle deshalb möglichst für die ganzen Alpen Grenzen der künstlichen Beschneiung ermitteln. Wie die Kalkulation ausgeht, weiß die Forscherin nicht: "Eine Kosten-Nutzen-Rechnung ist schwierig." Ein Grund dafür ist auch die Unsicherheit, wie stark die Temperaturen in den kommenden Jahrzehnten tatsächlich steigen werden.

De Jong warnt ausdrücklich davor, mit exzessivem Einsatz von Schneekanonen das Ökosystem Alpen durcheinander zu bringen: "Man kann den Wintertourismus nicht auf Kosten des Sommers betreiben." Ohnehin glauben die Forscher, dass die warme Jahreszeit eine immer größere Bedeutung für die Wintersport-Orte bekommen wird. "Davos macht derzeit im Winter 60 Prozent und im Sommer 40 Prozent des Jahresumsatzes", sagt Rixen. Das werde sich ändern, vermutlich in Richtung 50:50.

Carmen de Jong von der Université de Savoie hält den zwangsläufigen Schwenk zum Sommertourismus für keine schlechte Sache: "In 20, 30 Jahren werden die Leute freiwillig im Sommer in die kühlen Berge kommen, anstatt ans heiße Mittelmeer zu fahren." Dort würden wegen der Erderwärmung extrem hohe Temperaturen herrschen - schlecht für den Tourismus. "So gesehen ist der Klimawandel auch eine Chance für die Alpen."

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