
Luchse in Deutschland: Die Rückkehr der Raubkatzen
Luchse in Deutschland Die Rückkehr der Raubkatze
Der Andrang am Gehege ist riesig: Etwa 200 Menschen drücken sich gegen den Zaun. Während der grün gekleidete Mitarbeiter des Nationalparks Harz auf die Uhr schaut, essen die Besucher Gummibärchen und setzen den Nachwuchs zur besseren Sicht auf die Schultern. Der Grund, warum sich so viele Menschen auf den Weg zur Rabenklippe beim niedersächsischen Bad Harzburg gemacht haben, liegt am Rand des Geheges und scheint die Aufmerksamkeit zu genießen: das Luchsweibchen Pamina.
Pünktlich um halb drei beginnt die öffentliche Luchsfütterung. Aber bevor die Tiere im Wildgehege ein ordentliches Stück Hirschfleisch bekommen, beantwortet der Ranger geduldig die Fragen der Besucher und geht auf die Geschichte des Wildgeheges ein. Vor rund 14 Jahren errichtete das Land Niedersachen gemeinsam mit der Landesjägerschaft das Schaugehege an der Rabenklippe - als Teil des Wiederansiedlungsprojekts für Luchse.
Zwar leben seitdem auch Luchse frei in den Harzer Wäldern, doch zu Gesicht bekommt man sie fast nie. Die Wildkatzen sind Einzelgänger, nachtaktiv und sie scheuen die Blicke des Menschen. Für die neugierige Öffentlichkeit ist es daher ein guter Ersatz, dem Luchsweibchen Pamina und dem Kuder Tamino - Kuder, so heißen die männlichen Tiere - beim Fressen zuzusehen. Einen Geschmack vom scheuen Verhalten der Pinselohren bekommen die Besucher dennoch an diesem Samstag: Obwohl das zweite Luchsweibchen Silva ein schönes Stück Hirschfleisch komplett mit Fell ins Gehege gelegt bekommt, ist von ihr selbst nichts zu sehen. Entweder hat sie keinen Hunger - oder keine Lust auf die mit Kameras bewaffneten Besucher.
Auch ohne Silva ist die Öffentlichkeitsarbeit am Schaugehege ein Erfolg, genau wie das Harzer Luchsprojekt selbst. Seitdem 24 Luchse zwischen 2000 und 2006 freigelassen wurden, besiedeln deren Nachkommen inzwischen den gesamten Harz. Die Jungtiere haben deshalb ein Platzproblem: Auf der Suche nach einem eigenen Revier versucht der Nachwuchs, die Wälder jenseits des Harzes zu erobern. Das gelingt nicht allen Tieren. Etwa weil Autobahnen ihnen den Weg versperren, weiß Ole Anders zu berichten. Der Forstingenieur ist Leiter des Luchsprojekts. Er freut sich über die Wanderungen der Jungtiere: "Unsere Population zeigt eine deutliche Expansionstendenz."
Von so einer Situation kann Sybille Wölfl nur träumen. "Ich warne seit Jahren, dass die Luchspopulation in Bayern aussterben könnte", sorgt sich die Chefin des bayerischen Projekts - neben der Harzer Unternehmung das zweite große Luchsprojekt in Deutschland. Nach Wölfls Einschätzung leben dort derzeit 20 bis 40 Tiere, vor allem im Bayerischen Wald. "Aber die Population stagniert auf niedrigem Niveau."
Harzer Population expandiert
Das Hauptproblem ist die Wilderei, deren Konsequenzen Wölfl und ihre Kollegen anhand von Fotofallen beobachten. Die einzelnen Tiere lassen sich auf den Fotos an ihrem Fell eindeutig identifizieren, da die Verteilung der Flecken einzigartig ist. Die Kamerafallen zeigen, dass Luchse oft nach zwei, drei Jahren aus ihrem Revier verschwinden - und andere Luchse ihr Gebiet übernehmen. "Freiwillig würden die Tiere niemals ihr Revier räumen", so Wölfl. "Mit natürlicher Mortalität hat das nichts zu tun."
Im Frühjahr 2013 erregte der Fall einer Luchsin Aufsehen, die bei Bodenmais illegal abgeschossen worden war. Täter unbekannt. Bereits im Jahr zuvor wurde ein Luchsweibchen am Rand des Nationalparks Bayerischer Wald tot aufgefunden. Ihre Beute war mit einem Nervengift präpariert worden. Der Täter wusste also, dass die Wildkatzen mehrmals zu ihrem gerissenen Beutetier zurückkehren und davon fressen. Besonders pikant: Die auf den Namen Tessa getaufte Luchsdame trug zu diesem Zeitpunkt einen GPS-Ortungssender des Nationalparks Bayerischer Wald, und die Regionalpresse berichtete regelmäßig über ihre Streifzüge.
Im Harz ist Ole Anders diesbezüglich erleichtert. Derzeit gibt es keine Hinweise, dass dort Luchse gewildert werden. Wie seine Kollegen in Bayern überwacht er einige der im Harz lebenden Tiere per GPS. Die Wildkatzen tragen wie in Bayern einen speziellen Sender um den Hals, der zweimal täglich eine SMS mit den Koordinaten des Aufenthaltsorts verschickt. Einmal mittags, wenn sich die Luchse ausruhen, und einmal um Mitternacht, wenn sie auf Jagd sind. So lässt sich ihr Streifgebiet abstecken und prüfen, ob eine der Katzen auf Wanderschaft ist. Bislang hat es von diesen besenderten Tieren nachweislich ein Kuder geschafft, sich westlich vom Harz ein Revier zu erobern. "Dort haben wir zudem von mehreren Stellen Fotonachweise", freut sich Anders. Die Samtpfoten breiten sich aus - ohne dem Menschen in die Quere zu kommen.
Niemand fürchtet den heimtückischen Luchs mehr
Luchse sind in der Bevölkerung mittlerweile sehr beliebt, nicht nur in Niedersachsen, auch in Bayern. Niemand fürchtet mehr den heimtückischen Luchs. Deshalb will auch kaum jemand mehr den Jagdkonkurrenten in Mitteleuropa systematisch ausrotten. Das war im 19. Jahrhundert anders. 1818 verschwand der Luchs aus dem Harz, 1846 wurde das letzte Pinselohr im Bayerischen Wald getötet. Heute ist das Interesse der Menschen wieder groß - siehe die über 200 Besucher bei der Gehegefütterung an der Rabenklippe. Im Gegensatz zu den anderen ursprünglich heimischen Raubtieren Bär und Wolf weckt der Luchs auch kaum Ängste, da er sich zumeist im Verborgenen aufhält. Außerdem gab es in all den Jahren der Wiederansiedlung keinen einzigen Angriff auf Menschen.
Trotzdem: Einen Unterschied gibt es zwischen der bayerischen und der Harzer Population - die Art der Wiederansiedlung. Die erfolgte bei den bayerischen Tieren eher unfreiwillig. "Die Population stammt von ausgewilderten Luchsen in Tschechien ab, die in den Neunzigerjahren nach Bayern gekommen sind", erzählt Eric Imm. Imm leitet die Wildland-Stiftung, die Naturschutzorganisation des Bayerischen Jagdverbandes. Er spricht sich seit Jahren für den Luchs aus. Während es im Harz also genügend Vorlaufzeit und Gelegenheit dazu gab, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, für den Luchs zu werben und zudem die niedersächsische Landesjägerschaft aktiv einzubinden - sie hat das Luchsprojekt mitfinanziert -, wurden die Bayern vor vollendete Tatsachen gestellt. Ob sie den Luchs nun wollten oder nicht.
Zündstoff liefert vor allem sein Speiseplan. Als Beutegreifer nimmt er alles, was er überwältigen kann: Rehe, Hirschkälber, Schafe. Für Gehegebetreiber und Viehzüchter gibt es daher eine Kompensationsregel. Reißt der Luchs nachweislich eines ihrer Tiere, werden sie aus einem Fonds entschädigt, an dem sich der Bayerische Jagdverband und der Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) beteiligen. Jährlich kommen da nicht mehr als 500 Euro für ganz Bayern zusammen.
Allerdings fällt die Hauptmahlzeit des Luchses nicht unter diese Regel: das Reh. Davon sind vor allem Jäger betroffen. "Jäger erhalten keine Kompensation. Wildtiere sind herrenlos, sie gehören niemandem", so Sybille Wölfl. Erst wenn der Waidmann das Reh geschossen hat, fällt ihm das Aneignungsrecht zu. Darüber hinaus gelten in Bayern Abschussquoten. Die Jäger sind verpflichtet, jährlich eine gewisse Anzahl an Rehen zu erlegen. "In den Hochlagen des Bayerischen Waldes ist die Rehdichte aber sehr niedrig", erklärt Imm. Teilt sich dort ein Jäger das Revier mit einem Luchs, erschwert das die Jagd. Zum einen gibt es einen Mitesser, zum anderen verhalten sich Rehe scheuer, wenn sie das Raubtier in der Nähe wissen.
Verhärtete Fronten
In Bayern befeuert vor allem ein weiteres Problem die Luchswilderei: Die Abschussquoten berechnen sich nach der gesetzlich verankerten Maxime 'Wald vor Wild'. Der Schutz der Forstgebiete hat demnach Vorrang vor dem Wildtierbestand. "Das macht die Sache ziemlich verzwickt", sagt Imm. "Den Jägern könnte der Luchs letztendlich egal sein, aber wir diskutieren in Bayern seit Jahrzehnten sehr heftig über eine profitable Waldwirtschaft." Konkret heißt das: Die Rehe schädigen junge Bäume durch Verbiss und mindern damit den wirtschaftlichen Wert der Wälder. Deshalb sollen die Jäger jährlich eine bestimmte Menge an Rehen erlegen. Allerdings befürchten manche Jäger, sie könnten ihr Soll nicht erfüllen, weil ihnen der Luchs zu viele Rehe vor der Nase wegschnappt.
Die Forstleute wiederum gehen davon aus, dass die Kleinkatzen den Wildbestand nicht nennenswert dezimieren - und beharren auf den üblichen Abschussquoten. Eine festgefahrene Situation, die Folgen für die Kleinkatzen hat: "Die Akzeptanz für den Luchs ist bei den Jägern gesunken - weil sich die Diskussion um die Rehe und deren Abschuss verschärft hat", schildert Imm die Lage. "Das ist nicht Forsthaus Falkenau, es geht hier um wirtschaftliche Interessen", verdeutlicht Sybille Wölfl die vertrackte Lage. "Die Jäger stehen extrem unter dem Druck der Forstleute."
Jürgen Völkl von den Bayerischen Staatsforsten entgegnet: "Der Einfluss des Luchses ist nicht so riesig und wird oft überschätzt." Bei den Abschussquoten ist eine jährliche Schwankungsrate von zehn Prozent möglich. Völkl geht davon aus, dass der Luchs weit unter dieser Quote bleibt - die auch eingerichtet wurde, um dem Faktor Mensch Rechnung zu tragen. "Rehe werden vom Luchs gerissen", meint er. "Sie werden aber auch von Autos plattgefahren." Den Vorschlag zur Änderung der Abschussquote, die den Luchs in Betracht zieht, haben die Forstleute abgelehnt. Momentan sind die Fronten verhärtet. Leidtragender ist der Luchs. Zwar ist unklar, ob Jäger die Verantwortung für die Wilderei tragen - selbst wenn, handelt es sich um einzelne schwarze Schafe. Einer aber ist schon zu viel, wie Imm erklärt: "Ein Kuder durchstreift ein Gebiet, das 20 bis 25 Jagdreviere des Menschen umfasst. Da reicht es, wenn einer abdrückt."
Dieser Artikel stammt aus dem Juni-Ausgabe von "natur" , dem Magazin für Natur, Umwelt, nachhaltiges Leben.