Rätselhaftes Massensterben Als die Haie fast verschwanden

Haie müssen einst eine viel größere Rolle in den Urzeitmeeren gespielt haben. Doch vor 19 Millionen Jahren verschwanden sie beinahe ganz. Zwei Wissenschaftlerinnen sind dem Ereignis nun auf die Spur gekommen.
Haie in Gewässern vor der mexikanischen Küste

Haie in Gewässern vor der mexikanischen Küste

Foto: Rodrigo Friscione / Cultura RF / Getty Images

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Haie sind uralte Wesen, die schon seit Hunderten Millionen Jahren durch die Meere ziehen. Sie galten lange als Erfolgsmodelle der Evolution, da sie sich im Laufe der Zeit scheinbar kaum verändert haben. Manche Ur-Haie wie etwa Carcharocles megalodon legten in Hollywood eine erstaunliche Karriere hin – obwohl der häufig zum Megalodon verkürzte Vorzeitfisch bereits vor rund 2,6 Millionen Jahren ausstarb.

Folgt man einer neuen Studie, ging es einst um ein Haar fast allen Arten so.

Denn ein bisher völlig unbekanntes Massensterben wurde einem Großteil der Knorpelfische zum Verhängnis. Dem Tod im Meer kamen die beiden Wissenschaftlerinnen Elizabeth Sibert von der Harvard University und Leah Rubin vom privaten College of the Atlantic auf die Spur. Sie hatten Sediment aus Tiefseebohrungen untersucht und darin Spuren von Ichthyolithen analysiert, das sind winzige fossile Hautschuppen und Zähne oder Zahnstücke von Fischen. Auf dem Meeresboden sammelten sie sich auf natürliche Weise und wurden im Laufe der Zeit von Sediment überlagert. Die Schichten des Grundes sind also eine Art Archiv für die Artenvielfalt der Urmeere – zumindest, wenn man tief genug gräbt.

Der nun analysierte Datensatz stammt von zwei Löchern jeweils im Nord- und im Südpazifik, dafür wurde der mehrere Tausend Meter unter der Wasseroberfläche liegende Meeresboden auf viele Hundert Meter aufgebohrt und die Sedimente unter die Lupe genommen. Daraus erstellen Sibert und Rubin eine Aufzeichnung der Hai-Vielfalt und -Häufigkeit, die fast die vergangenen 40 Millionen Jahre umfasst.

Dabei zeigte sich Überraschendes: Vor etwa 19 Millionen Jahren – erdgeschichtlich befinden wir uns im frühen Miozän – verschwanden Spuren von Haien fast vollständig aus den Aufzeichnungen der tiefen Meere. Offenbar schwammen später in den offenen Gewässern 90 Prozent weniger Haie herum. Dazu ließ auch die Vielfalt der Fische nach – sie ging um fast 70 Prozent zurück.

Wie stark der geheimnisvolle Haischwund zu Buche schlug, wird im Vergleich mit anderen Fischfossilien deutlich: Vor dem Ereignis zählten die Forscherinnen im Ozeanboden von fünf Fischfossilien ein Haifossil. Nach dem Ereignis kam ein Haifossil auf hundert Fischfossilien. Während andere Arten in dem Zeitraum keinen Rückgang verzeichneten, müssen Haie in dieser Zeit im offenen Meer irgendein schwerwiegendes Problem gehabt haben.

Rückschlag bis heute spürbar

Seit dem großen Massensterben vor 66 Millionen Jahren, dem infolge eines Meteoriteneinschlags wohl auch die Dinosaurier zum Opfer fielen und rund 30 bis 40 Prozent der Haiarten, habe es kein derartiges Ereignis gegeben, schreiben die Forscherinnen im Fachmagazin »Science« . Über den Grund für das Ereignis können sie allerdings nur spekulieren. Es scheint unabhängig von bekannten globalen Klimaveränderungen oder anderen Umweltfaktoren stattgefunden zu haben. Allerdings gebe es verhältnismäßig wenig Tiefseebohrkerne, die bis in den für die Studie untersuchten Zeitraum reichen.

Das große Haisterben hat sich nachhaltig auf die Entwicklung der Tiere ausgewirkt. »Es veränderte die Struktur der Fisch- und Hai-Gruppen in den küstenfernen Gewässern grundlegend und unterbrach eine eine Million Jahre währende Stabilität«, heißt es. Die Folgen des relativ zügigen Prozesses, der sich in einem Zeitraum von vielleicht 100.000 Jahren vollzog, sind bis heute sichtbar.

Ein Vergleich der insgesamt mehr als 1200 Hautteilchen unter dem Mikroskop, manche davon kleiner als ein zehntel Millimeter, mit modernen Arten ergab, dass sich ähnliche Schuppen, wie sie nach dem großen Haitod übrig blieben, auch heute noch finden. Die aus der Zeit davor waren aber zu einem Großteil ganz anders aufgebaut, was darauf hindeutet, dass viele Arten für immer verschwanden. Auch tauchten etwa bei den Zähnen später keine neuen Formen auf – die Tiere konnten sich offenbar nie mehr vom Rückschlag bei ihrer Entwicklung erholen.

Für die Paläobiologin Julia Türtscher vom Institut für Paläontologie der Universität Wien ist die Studie hochinteressant, sie sieht aber auch Einschränkungen. So seien taxonomische Aussagen auf der Grundlage von Hautteilchen, den sogenannten Dentikeln, schwierig, da man so kaum einzelne Haiarten identifizieren könne. »Einige Haiarten weisen je nach Körperregion eine Vielzahl von verschiedenen Dentikel-Morphologien auf«, teilt sie dem SPIEGEL mit. Im drastischsten Fall könne der Verlust von einer einzigen Haiart einhergehen mit dem Verlust von einer Vielzahl verschiedenster Dentikel-Formen. Zwar könne man Haiarten anhand einzelner Zähne identifizieren. »Aber mithilfe von Zähnen konnten wir bisher kein derartiges Aussterbeereignis zu jener Zeit nachweisen«, so Türtscher, die nicht an der Studie beteiligt war. Aus ihrer Sicht stellten die zwei untersuchten Bohrkerne zwar einen Indikator für das Aussterbeereignis dar, allerdings sollte man zukünftig weitere Bohrkerne untersuchen.

Dennoch sind sich Sibert und Rubin sicher, dass Haie einst eine wesentlich wichtigere Rolle in den Ökosystemen der Ozeane eingenommen haben. Überlebt haben damals wohl vor allem Taxa, deren Lebensraum küstennah lag. Möglicherweise wurden durch das Massensterben die Grundlagen für manche große Haifischart gelegt, die heute in den Meeren seinen Beutetieren folgt. Nach Schätzungen leben derzeit weniger als 500 Arten auf der Erde, einige davon in der Tiefsee, wo noch weitere unbekannte vermutet werden.

Der Mensch ist schlimmer als die Natur

In einem Begleitartikel zu der Studie  loben die Meeresökologen Catalina Pimiento und Nicholas Pyenson die Methodik der Forscherinnen. Während Daten meist aus dem Sediment von verhältnismäßig flachen Gewässern gesammelt werden, hätten die Autorinnen für die Analyse der aktuellen Studie Pionierarbeit geleistet.

Dann ziehen Pimiento und Pyenson einen direkten Vergleich zur Situation von rezenten Haien. Denn auch heute sind die Tiere teils massiv bedroht – und im Gegensatz zum Miozän ist die Ursache dafür bekannt: Es ist der Mensch, der den Tieren zu schaffen macht. Er hat in weniger als einem Jahrhundert fast dasselbe wie vor 19 Millionen Jahren erreicht.

Die globalen Bestände von ozeanischen Haien seien um mehr als 70 Prozent zurückgegangen – ein Verlust, der direkt auf Überfischung zurückzuführen ist. »Das fühlt sich wie ein Déjà-vu an«, so die beiden Wissenschaftler. Und trotz einiger Verbesserungen bei den Schutzmaßnahmen gebe es nur wenige Länder, die Beschränkungen für den Fang von Hochseehaien durchsetzen, kritisieren die Autoren. »Dabei liegt das ökologische Schicksal dessen, was übrig geblieben ist, nun in unseren Händen.«

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