Bilanz des Meteoritenunfalls Kälteschock nach dem Einschlag
Hamburg/Moskau - Es waren dramatische Stunden in der russischen Millionenstadt Tscheljabinsk: Am Freitag kurz nach 9 Uhr morgens Ortszeit verglühte unter lautem Donner ein mehrere Meter großer Meteorit über der Stadt im Ural. Gesteinsbrocken fielen wie Feuerbälle auf die Erde.
Chaos herrschte: Die Explosion löste Alarmanlagen aus, Mobiltelefone funktionierten nicht mehr. Der Meteorit raste über den Horizont und hinterließ eine lange, weiße Rauchwolke, die sogar im 200 Kilometer entfernten Jekaterinburg zu sehen war.
Die Bilanz zeigt, dass es sich um den wohl schwersten Meteoritenunfall der menschlichen Zivilisation handelt; bislang ereigneten sich Einschläge abseits großer Ortschaften, oder sie hinterließen weniger Schaden. Doch hier traf es eine Großstadt. Etwa 1100 Menschen wurden nach Angaben des Innenministeriums zumeist leicht verletzt, darunter waren laut Behördenvertretern mehr als 200 Kinder. Nach Angaben des Katastrophenschutzministeriums wurden mehr als 100 Menschen stationär in Krankenhäusern aufgenommen. Die meisten von ihnen seien durch umherfliegendes Glas getroffen worden.
Laut offiziellen Angaben hat die Druckwelle des Meteors 170.000 Quadratmeter Fensterglas zersplittern lassen. Rund 3000 Häuser sind betroffen, darunter 34 Krankenhäuser, 361 Kindergärten und Schulen. Die überwiegende Mehrheit der betroffenen Wohnhäuser sind große Mietskasernen mit Dutzenden oder gar Hunderten Parteien. Die ebenfalls in Mitleidenschaft gezogenen Zentralheizungen sollten schon am Abend wieder Wärme in jedes Haus in Tscheljabinsk pumpen, so hat es die Verwaltung versprochen. Auch das Gas soll wieder fließen. Doch was nutzt das, wenn der Wind durchs Fenster pfeift? Es wird eiskalt in der Region. Der Meteorit hat mit dem Temperatursturz allerdings nichts zu tun.

Der Katastrophe auf der Spur: Erst der Einschlag, dann das Beben
In ersten Schätzungen kalkulieren die Behörden die Schäden auf eine Milliarde Rubel, also rund 25 Millionen Euro, wie Gebietsgouverneur Michail Jurewitsch sagte. Die Größe der kosmische Bombe wird dabei immer deutlicher. Experten taxieren das Gewicht auf mindestens zehn Tonnen. Der Brocken wurde von der Luft binnen Sekunden von 50.000 Kilometern pro Stunde auf fast null gebremst. Er begann zu glühen, zerplatzte schließlich. Die Forscher rätselten: Haben die Trümmer die Erde erreicht? Wie heftig war der Aufprall? Haben die Geschosse Krater geschlagen?
Nun liegen erste Daten vor, die vermutlich den Aufprall dokumentieren: Um 4.22 Uhr deutscher Zeit gab es eine Erschütterung in der Stadt Tscheljabinsk, das zeigen die Aufzeichnungen von Erdbebensensoren. Bebenwellen breiteten sich in alle Richtungen aus, sie wurden von Messgeräten an vielen Orten registriert. Das Geoforschungszentrum Potsdam GFZ veröffentlichte ein "Seismogramm des Meteoriteneinschlags in Russland" - es zeigt, wie sich die Erschütterungen ausgebreitet haben.
Loch im Eis entdeckt
Auch der Geologische Dienst der USA (USGS) hat ein Beben in Tscheljabinsk gemessen. Es habe allerdings die Stärke null auf der Erdbebenskala. Aufgrund der schwachen Intensität sei nicht klar, ob die Erschütterungen im Boden oder in der Luft ausgelöst wurden, erklärt der USGS. Druckwellen von Explosionen können sich auch von der Luft auf den Boden übertragen.
Dass es aber wohl einen stärkeren Aufprall gegeben hat, zeigt die Meldung russischer Behörden. Sie haben am Ufer des Tschebarkul-Sees rund 80 Kilometer westlich von Tscheljabinsk ein etwa sechs Meter breites Loch entdeckt. Demzufolge muss dort ein Geschoss eingeschlagen sein.
Soldaten hätten den Bereich an dem zugefrorenen Gewässer abgesperrt, sagte Oberst Jaroslaw Roschtschupkin vom Zentralen Wehrbezirk. Einsatzkräfte berichteten von zahlreichen, etwa einen Zentimeter großen Splittern in der Nähe. Ob es noch irgendwo einen größeren Krater gibt, ist unklar. Der Meteorit ist in kleinere Teile zerborsten, so dass es keinen breiteren Trichter geben könnte.
Auch die Spur des Meteoriten durch die Atmosphäre haben Wissenschaftler mittlerweile registriert. "Wir haben jetzt Daten verschiedener Stationen vorliegen", sagt Gernot Hartmann von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR).
Beobachtungswarten in Aktjubinsk im nördlichen Kasachstan sowie im zentralrussischen Salessowo hätten den Druck des Gesteinsbrockens beim Flug durch die Lufthülle der Erde gemessen. Dabei empfingen die Stationen Schallwellen niedriger Frequenz, sogenannten Infraschall: "Es waren starke Signale. Man kann sie zeitlich zuordnen", erklärt Hartmann. Das Signal sei relativ langgezogen gewesen - ein Hinweis auf die Flugbahn des Himmelskörpers.
Jagd nach Fensterglas
Nun beginnt für die Menschen in Tscheljabinsk die Suche nach heilem Glas: Schon am Vormittag, unmittelbar nach dem Meteoriteneinschlag, berichteten russische Medien von einem Ansturm auf Fenster und Plexiglas. Die Stadt Tscheljabinsk hat ihren Bürgern kostenlos Glasersatz versprochen. Doch wer soll die Abertausenden Fenster so schnell austauschen? Die weniger betroffenen Nachbarstädte entsenden Handwerker nach Tscheljabinsk, so wie sonst Bergungstrupps in Katastrophengebiete.
Die Stadtväter selbst haben einen Aufruf gestartet: Freiwillige mit Erfahrung beim Fenstereinbau dringend gesucht. "Im Falle von Zerstörungen von Fensterglas in Wohnungen bitten wir darum, selbständig Maßnahmen zur Wiederherstellung zu ergreifen", steht auf Aushängen an den Straßenecken.
Nach dem Feuerball am Morgen kommt die Kälte der Nacht; die Temperaturen werden auf bis zu minus 20 Grad sinken. Am Abend wandte sich der Gouverneur noch einmal an die Bürger - mit einem Tipp für alle, die die erste Nacht ohne neue Fenster überstehen müssten: Sie sollten die Fenster, so gut es gehe, mit Decken verhängen.
Einige Russen reagierten mit wirtschaftlichem Instinkt auf die Naturkatastrophe: Die Nachrichtenagentur RIA Novosti berichtete, einige Bewohner der betroffenen Region hätten ihre Fenster zerstört, um vorzugeben, sie seien durch den Meteoriten zu Bruch gegangen. Andere boten im Internet mutmaßliche Teile des Meteorits zum Kauf an.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, der Einschlag habe um 2.22 Uhr MEZ stattgefunden. Tatsächlich fand er um 4.22 Uhr statt. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.