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Mückenatlas Inventur bei den Plagegeistern

Manche Stechmücken sind nur lästig, andere können gefährliche Krankheiten übertragen. Wissenschaftler erforschen daher, wo in Deutschland welche Arten der Plagegeister zu Hause sind - und setzen dafür auf die Hilfe von Freiwilligen.
Von Christoph Seidler, Thies Schnack und Robert Ackermann

Schon nach wenigen Augenblicken möchte man anfangen, sich zu kratzen. Zum Beispiel der kleine rote Punkt da an der Hand. Der sieht doch verdächtig aus wie ein Mückenstich. Und er fühlt sich auch so an. Wer mit Doreen Werner und Dorothee Zielke unterwegs ist, darf nicht zimperlich sein. Dass man gepiekst wird, ist nur eine Frage der Zeit. Schließlich sind wir auf Mückenjagd.

Die Biologinnen stehen, geschützt von wasserdichten Wathosen, in einem Teich am Rand der brandenburgischen Kleinstadt Müncheberg. Sie fischen im Wasser nach Mückenlarven, im Unterholz haben sie mit einem Netz schon nach ausgewachsenen Tieren gejagt. Die beiden Forscherinnen des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung arbeiten daran mit, Deutschlands Stechmücken zu erfassen. "Wir haben de facto keine grundlegenden Daten, die für ganz Deutschland gelten", klagt Doreen Werner.

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Insekten auf der Spur: Ein Atlas voller Mücken

Foto: Patrick Pleul/ dpa

Was so ungefähr klar ist: Knapp 50 Stechmückenarten gibt es - und einige von ihnen können gefährliche Krankheiten übertragen. Doch welche Art lebt wann genau an welcher Stelle? Dazu fehlen Informationen. Mit rund 120 Fallen im ganzen Land wird deswegen die Verteilung der Plagegeister erfasst. Das Geld kommt vom Robert-Koch-Institut und dem Bundes-Landwirtschaftsministerium. Doch vor allem setzen die Forscher auf Hilfe von Freiwilligen: In einem Mückenatlas  erfassen sie Einsendungen von Hobby-Mückenjägern aus dem Bundesgebiet.

Im vergangenen Jahr hatten Werner und ihre Kolleginnen mehr als 2000 Mücken-Briefe in der Post, dieses Jahr waren es bisher 151. Besonders fleißig gesammelt wird in Nordrhein-Westfalen, Berlin/Brandenburg und Sachsen. Aus Thüringen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland hoffen die Forscher dagegen noch auf deutlich mehr Einsendungen.

In Müncheberg werden die gefangenen Tiere unterm Mikroskop bestimmt, außerdem helfen Genanalysen des Friedrich-Löffler-Instituts auf der Insel Riems bei Greifswald. Insgesamt 32 verschiedene Arten haben die Forscher in den Einsendungen bereits nachgewiesen.

Wer den Wissenschaftlern Mücken schickt, muss allerdings eine entscheidende Regel beachten: Niemals draufhauen! Mit zerknautschten Insekten lässt sich nämlich nichts anfangen. Deswegen sollten die Tiere zum Beispiel mit einem Marmeladenglas gefangen und anschließend im Gefrierfach ins Jenseits befördert werden. Dann können sie, geschützt zum Beispiel in einer Streichholzschachtel, per Post verschickt werden. Jeder Einsender bekommt eine persönliche Antwort der Forscher. Kinder erhalten sogar eine Urkunde als Mückenjäger.

Buschmücke erobert Deutschland

Jahrzehntelang hatten sich nur einige versprengte Enthusiasten für Deutschlands Mücken interessiert. Das lag vor allem daran, dass es seit den fünfziger Jahren keine einheimischen Malariafälle mehr gab - vor allem dank der Trockenlegung von Sümpfen und dem großflächigen Einsatz von Insektiziden. Also, so glaubte man, bestand auch keine Gefahr mehr durch die fliegenden Nervtöter.

Erst als ab 2006 die Blauzungenkrankheit Deutschlands Tierhalter überraschte, wurden Mücken und die durch sie übertragenen Krankheiten wieder interessant. Schafe, Rinder, Ziegen starben - Menschen waren nicht gefährdet. Doch auf einmal spielte die Frage wieder eine Rolle, ob durch den Klimawandel und die immer stärkeren globalen Verkehrsströme neue Mückenarten nach Deutschland kommen - und die Frage, ob hier lebende Mückenarten womöglich fremdländische Krankheitserreger verbreiten können.

Der Mückenatlas soll Antworten auf diese Fragen liefern. Durch Einsendungen haben die Forscher zum Beispiel bisher unbekannte Kolonien der Buschmücke im Raum Köln-Bonn-Koblenz aufgespürt. Dort haben sich die kälteliebenden Tiere in einem 2000 Quadratkilometer großen Gebiet unter anderem auf Friedhöfen eingenistet - und vertreiben nach und nach die einheimischen Arten. Das Problem: Die Buschmücke kann das West-Nil-Virus übertragen.

Und dann ist da noch die Tigermücke. Vor ihr haben die Forscher noch weit mehr Respekt. Denn das wärmeliebende Tier kann als "absolut effizienter" Überträger mehr als 50 krankmachende Viren verbreiten, zum Beispiel Dengue- oder Chikungunyafieber. In 20 Ländern Europas ist die Mücke schon heimisch - und wohl auch bald in Deutschland. "Das ist nur eine Frage der Zeit", sagt die Forscherin. "Die Tiere werden massiv aus Italien eingeschleppt, wo es stabile Populationen gibt."

Die Wissenschaftler haben die Mücken auf Rastplätzen an der Autobahn 5 im Rheintal nachgewiesen. Nun verfolgen sie bang, ob sich die Art für mehr als drei Generationen dort etablieren kann. Dann würde sie offiziell als heimisch gelten.

Karten zu erstellen, aus denen hervorgeht, wo welche Mückenart in Deutschland lebt - das ist das Ziel des Mückenatlas. Bisher können die Forscherinnen diese aber noch nicht vorzeigen. Ihnen fehlen noch die Daten mehrerer Jahre, sagen sie. Erst in der Summe lasse sich ein verlässliches Bild der Verbreitung zeichnen. Doreen Werner sagt: "Dieses Projekt ist mit viel Geduld verbunden."

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