

Konstanz - Eigentlich müsste der kleine Zebrafisch schlimm aussehen. Vor gut zwei Wochen wurde ihm die halbe Schwanzflosse gekappt. Doch im Aquarium ist das Tier kaum von seinen unversehrten Artgenossen zu unterscheiden - denn die Flosse ist bereits nachgewachsen. Wie ein Fächer ziehen Dutzende Knochenstrahlen vom Rumpf bis zur Schwanzspitze, dazwischen schimmert zartes Bindegewebe. Pigmentzellen geben der Flosse ihre typische Streifenfärbung. Auch Blutgefäße und Nervenzellen verrichten ihre Arbeit, als ob die Flosse nie abgeschnitten worden wäre.
Wie und warum das funktioniert, haben nun Wissenschaftler der Universität Konstanz herausgefunden: Sie konnten erstmalig zeigen, dass Retinsäure für die Regeneration unverzichtbar ist. Mit ihrem Bericht im Fachmagazin "Development" schließen sie eine seit fast drei Jahrzehnten bestehende Forschungslücke.
Während Menschen verletzte Gliedmaßen und Organe nur sehr bedingt regenerieren können, haben Fische und Amphibien erstaunliche Selbstheilungskräfte. Seit langem ist bekannt, dass zum Beispiel bei Molchen und Salamandern verlorene Extremitäten wieder nachwachsen. Als Paradebeispiel gilt der Axolotl, doch auch Zebrafische zählen zu den Meistern der Regeneration: Ihnen können nicht nur Flossen nachwachsen, sondern auch der Herzmuskel, der Sehnerv oder das Rückenmark.
Vitamin-A-Abkömmling benötigt
"Da die Schwanzflosse kein überlebenswichtiges Organ ist, eignet sie sich hervorragend, um die molekularen Mechanismen der Regeneration zu untersuchen", sagt Gerrit Begemann, Leiter der Konstanzer Forschungsgruppe. Sobald eine Flosse gekappt wird, beginnt ein aus mehreren Zellschichten bestehendes Wundgewebe die Verletzung zu verschließen. Gleichzeitig verlieren die Zellen im Stumpf ihre typischen Eigenschaften, die sie etwa als Knochen- oder Bindegewebszellen auszeichnen. Stattdessen formen sie einen Verband aus Zellen, die sich sehr schnell teilen und schließlich neues Gewebe bilden können: das sogenannte Blastema.
Wie die Konstanzer Wissenschaftler zeigen konnten, benötigt der Prozess Retinsäure: Das aus Vitamin A erzeugte Molekül schaltet bei Tieren wie Menschen bestimmte Gene ein, die für die Entwicklung wichtig sind. "Eine künstlich gesteigerte Konzentration an Retinsäure erhöht die Zellteilungsrate im Blastema", sagt Begemann. "Sobald wir aber durch eine gezielte genetische Veränderung die Fische vorübergehend daran hindern, Retinsäure zu produzieren, bildet sich auch kein Blastema mehr."
Nachwachsende Zellen vorm Tod bewahrt
Nicht nur das: Ohne Retinsäure stirbt das Blastema in bereits wiederhergestellten Flossenteilen sogar ab. Überrascht sahen die Forscher zu, wie bei den genetisch manipulierten Zebrafischen die nachwachsende Schwanzflosse innerhalb weniger Stunden zu schrumpfen begann - ein dramatischer Effekt, der sich nun jedoch erklären lässt. Denn Retinsäure ermöglicht offenbar nicht nur das Wachstum des neuen Zellverbands. Das Molekül wird auch vom Blastema selbst produziert, um sich zu schützen.
"Eigentlich müsste übermäßiges Zellwachstum im Körper, wie man es ja auch bei Krebs findet, bekämpft werden", sagt Begemann. "Die Retinsäure aber aktiviert ein Gen, das die nachwachsenden Zellen vor dem Tod bewahrt." Mit diesem Mechanismus sichern die Zellen des Blastemas ihr eigenes Überleben.
Mit ihren Erkenntnissen bringen die Konstanzer Wissenschaftler die Grundlagenforschung zur Regeneration einen Schritt voran. Sie hoffen, dass ihre Forschung auch bei der Erforschung der menschlichen Wundheilung hilft. Wenn Wissenschaftler die Signalmechanismen bei einem tierischen Organismus durchschauten, könne das vielleicht klären, warum Menschen Körperteile und Organe kaum regenerieren können, sagt Begemann.
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Betäubter Zebrafisch: Um die Regenerationsfähigkeit der Tiere zu erforschen, haben Forscher der Universität Konstanz Zebrafischen einen Teil der Schwanzflosse abgeschnitten.
Gekappte Flosse: Da die Schwanzflosse kein lebenswichtiges Organ ist, eignet sie sich, um die Regenerationmechanismen zu studieren.
Schwanzflosse eines Zebrafisches: Pigmente geben der Flosse ihre typische Streifenfärbung.
Schwanzflosse unmittelbar nach der Amputation: Sofort beginnt ein aus mehreren Zellschichten bestehendes Wundgewebe die Verletzung zu verschließen.
Schwanzflosse nach einem Tag: Ein noch farbloses Gewebe, das sogenannte Blastema, hat sich gebildet. Wie die Wissenschafter herausgefunden haben, ist eine Substanz namens Retinsäure für diesen Prozess entscheidend. Fehlt sie, stirbt das neue Gewebe ab.
Fortschreitende Regeneration: Nach zwei bis drei Tagen hat sich das Blastema vergrößert. Blutgefäße versorgen das neu gebildete Gewebe.
Sieben Tage nach der Amputation: Die Flosse hat bereits wieder ihre ursprüngliche Form.
18 Tage nach dem Kappen der Flosse: Kleinere Unregelmäßigkeiten können zurückbleiben, doch zum größten Teil hat sich die Flosse regeneriert.
Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit
Anmelden