Natur und Ästhetik Die Suche nach der Quelle aller Schönheit

Vor einem Jahrhundert zeichnete der Zoologe Ernst Haeckel Meereslebewesen und öffnete dem Menschen den Blick für ihre wundersame Anmut. Sein Werk wirft Fragen auf: Hat die Schöpfung einen Sinn für Ästhetik? Liegt in der Natur der Ursprung des Schönen? Ein Essay des Meeresbiologen und Philosophen Andreas Weber.

Die zeichnerische Ekstase, mit der Ernst Haeckel in seinen "Kunstformen der Natur" um 1900 die Schönheit anderer Organismen beschwor, überdeckte einen tiefen Zwiespalt. So schön sie sich auch zeigten: Haeckels biologische Gemmen waren Avantgarde und Anachronismus zugleich.

Brandneu und revolutionär erschien zu jener Zeit das seinen hinreißend komponierten Tafeln zugrunde liegende Schema, die Formenfülle der lebenden Wesen gehe auf einen objektiven Mechanismus zurück, auf die Ordnung der frisch entdeckten Riesenmaschine Evolution mit ihrem unerbittlichen Auswahlverfahren: Effizienz.

Antiquiert aber musste Haeckels Beharren auf einem anderen Prinzip wirken, sein Festhalten an jener Leitidee, die ihn überhaupt erst dazu anstachelte, zierliche Quallen und sternenstrahlige Einzeller zu komponieren wie ein Dekorateur die Kristalllüster in einem Palast. Dieses Prinzip war die Schönheit. Seht her, die wahre Hüterin des Schönen ist die Natur, so rufen die Tafeln dem Betrachter noch heute entgegen.

In einem Kraftakt versuchte Haeckel beide Kräfte noch einmal zusammenzuspannen, das unerbittliche Naturgesetz und die unergründliche Naturgestalt. Sein "Monismus", die Philosophie, die diese Synthese beschrieb, vermochte ein paar Jahre lang die Gebildeten zu mobilisieren, ehe sie rasch in Vergessenheit geriet.

In Wahrheit hatte die Epoche längst entschieden. Schönheit war keine Größe mehr, auf die man sich verständigen konnte. Um 1900 hatten die wichtigsten Künstler endgültig aufgegeben, dass sich Wahres durch Schönes darstellen ließe. Die Künste hatten sich vom Abbilden der Natur denkbar weit entfernt. Zugleich wandte sich die Wissenschaft davon ab, nach dem Wirken von Harmonie und Beseeltheit als Grund der lebendigen Formen zu suchen. Was die Evolution antrieb, schien nicht länger das Harmonische, sondern das Monströse - die Gier der Individuen, zu siegen, zu überleben.

Dass Haeckel auf beidem beharrte, auf dem Wahren und auf dem Schönen, machte viele seiner Bilder zunächst unrettbar provinziell, zu Kunsthandwerk. Man vergleiche mit ihnen nur die Revolutionen der bildenden Kunst zu jener Zeit, etwa in den Werken von Cézanne, von Picasso, von Kandinsky. Und doch, Haeckels Tafeln bannen heute noch den Betrachter, als enthielten sie etwas, das weiter gilt, etwas, das uns betrifft. Immer noch sind die schlanken Medusen in ihren Tentakelschleiern unbezweifelbar schön. Immer noch spricht Leben aus ihnen, das uns anzieht. Und immer noch beharren Abermillionen Menschen darauf, die Natur selbst, das Vorbild aller solcher Werke, schön zu finden.

Es scheint, Haeckel hat als Künstler recht darin behalten, hartnäckig und unmodern auf der Frage nach dem Zusammenhang kunstvoller Schönheit und naturgesetzlicher Notwendigkeit zu bestehen. Was ist das Schöne? Was ist Leben? Das sind Fragen, die bald nach Haeckels gewaltiger Konzeption kaum mehr gestellt wurden. Bis heute denken wir darüber selten in aller Offenheit nach. Und doch beschäftigt uns dieser Zusammenhang unterhalb der kulturellen Wahrnehmungsschwelle beständig.

Hat nicht Haeckel unverfroren den Finger auf eine Wunde gelegt, die heute noch, ja heute sogar noch viel mehr unsere Wirklichkeit kennzeichnet? Ist nicht das um sich greifende biologische Gesetz unser größtes Problem, die vermeintliche Selbstsucht, die alle evolvierenden Systeme kennzeichnet und der auch wir uns zu fügen haben in einem Zwang zur Effizienz, zur Optimierung, zur Selektion, zum Aussortieren, zur Globalisierung-koste-sie-was-sie-wolle? Ist nicht andererseits das Schwinden des Schönen die zweite Kennung unserer Epoche, sowohl in unserer unmittelbaren Lebensumgebung als auch darin, was Kunst sich erlaubt?

Lange Zeit, gewiss die meiste, seit es Menschen auf der Erde gibt, galt das Schöne als objektiver Bestandteil der Welt. Sein Glanz war das Merkmal einer heiligen Schöpfung. In manchen Gesellschaften ist es das geblieben. Für die australischen Ureinwohner zeigt sich in der Schönheit einer Landschaft die Kraft der Ahnenwesen, und diese versuchen sie auf Bildern als magischen Code wiederzugeben. Dem frühmittelalterlichen christlichen Philosophen Johannes Scotus Eriugena galt die irdische Seinsordnung als Entfaltung der ewigen göttlichen Natur: Der Ursprung der Schönheit ist eine Offenbarung, realisiert in lebenden Körpern.

Doch ausgehend von der Renaissance erhob der Mensch in den vergangenen 500 Jahren kraft seiner Rationalität den Anspruch, die Gesetze des göttlichen Kosmos zu entschlüsseln. Seitdem verlor das Schöne mehr und mehr seine Wahrheitskraft. Immer stärker wurde alle Ästhetik nun Ausdruck allein der menschlichen Vernunft, Bürge bloß der menschlichen Würde und Freiheit. Spätestens seit dem Philosophen Friedrich Hegel hatten Natur- und Kunstschönes nichts mehr miteinander zu schaffen.

Gibt es eine objektive Idee der Ästhetik?

Zur Krönung dieses Verlusts kam es aber erst in den vergangenen Jahrzehnten. Immer mehr Gelehrte sind heute überzeugt, auch die Idee eines einheitlichen, fühlenden menschlichen Wesens über Bord werfen zu müssen. Schon der Vater der Tiefenpsychologie, Sigmund Freud, hatte gezeigt, wie sehr unser Handeln von verdrängten Traumata beeinflusst wird, ohne dass wir es merken. Neodarwinisten wie Richard Dawkins legen den Finger darauf, dass unsere Gefühle nur scheinbar real seien, in Wahrheit aber dem Egoismus sprachloser Gene folgten, die ihr Territorium um jeden Preis erweitern wollen. Gehirnforscher wie Gerhard Roth sind heute der Auffassung, dass unsere Handlungen total determiniert seien, eine Kausalkette der Körpermaschine und das Ich nichts weiter als eine neuronale Illusion. Viele Geisteswissenschaftler schließlich glauben fest daran, dass unsere Interessen und Empfindungen allein die Quersumme kultureller Moden, Machtverhältnisse und technischer Manipulationen sind.

Wenn es aber weder eine Natur gibt noch einen Menschen, dann ist auch die Idee der objektiven Schönheit gestorben. Dann ist das Schöne Geschmackssache - letztlich nur noch das, was im Überlebenskampf Fun macht und darum in der Partnerwahl mehr Fitness verheißt. Jeder Hebel zur Rettung des verbleibenden Schönen in der Natur ist gebrochen. Des Menschen Urteil über sein Selbst verwandelt sich zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Wir schrumpfen zu der Maschine zusammen, für die wir uns im Rahmen des technologischen Zivilisationsprogramms längst halten.

Doch weder zur Schönheit noch zur Wahrheit (oder zum Guten) ist das letzte Wort gesprochen. Zwar gibt sich leicht der Lächerlichkeit preis, wer über den Ursprung des Schönen nachdenkt. Doch bereits dieses eine sollte zu denken geben: Die ästhetische Krise fällt mit einer anderen genau zusammen - nämlich mit der Krise der lebenden Wesen, der Natur.

Die Epoche, in der sich der Mensch zuerst als vereinzeltes Subjekt feierte, losgelöst von aller natürlichen Heimat, und an deren Ende er sich dann schließlich zum namenlosen (und nur noch durch erfolgreichen Genuss definierten) Punkt im Kräftespiel unbeherrschbarer Mächte verkleinerte, erfand zugleich totalen Staatsterror und Massenvernichtung, etablierte den Hungertod als Alltagsphänomen und brachte den drogenabhängigen Kindersoldaten hervor. Es ist die Epoche, die täglich Millionen Tiere als Fleischbrocken benutzt, routinemäßig Embryonen verarbeitet und mehr Arten aus dem fragilen Lebensnetz zu reißen verspricht als ein katastrophischer Meteoritenaufprall Jahrmillionen vorher. Man könnte es auch so sagen: Die Epoche, in der die Rede vom Schönen ihren endgültigen Sinn verloren hat, ist dieselbe, in der auch die Rede vom Leben schal geworden ist.

Es scheint: Als die Wissenschaft begonnen hat, die rationalen Gesetze des Kosmos zu ergründen und alles, was existiert, auf die Regeln der unbelebten Materie zurückzuführen, entschied sie sich, die ganze Welt und auch das Leben nach den Regeln des Toten zu erklären. Nur so verhieß der gigantische Herrschaftsplan zu gelingen. Doch die Folgen sind immens. Wir treiben als Lebewesen einen Kult mit dem Leblosen - weil wir der Meinung sind, dass nur seine kalte Neutralität den letzten Schlüssel für die Erkenntnis und später die Beherrschbarkeit des Kosmos in die Hand gebe. Denn Erkenntnis und Beherrschbarkeit sind unsere Obsession: Die Welt soll besser werden, die Erlösung soll nicht mehr wie im Mittelalter im Jenseits, im Reich Gottes geschehen, sondern hier machbar sein.

In Not sind heute das Leben und das Schöne. In Not sind beide zugleich, weil beides, Leben und Schönheit, Eigenschaften desselben sind. "Macht' ich doch nur das Vergängliche schön", lässt Goethe die Gottheit sagen. Die Frage nach dem Ursprung des Schönen und die Frage nach dem Charakter des Lebendigen hängen unmittelbar zusammen. Heute aber ist die Antwort nach dem Lebendigen - eine seelenlose genetische Überlebensmaschine, deren Erfolg umso größer ist, je stärker sie ihre egoistische Gier durchzusetzen vermag - derart, dass sie schon die Frage selbst negiert.

Den Philosophen Haeckel, der ja die ersten Keime dieser verheerenden Auffassung vehementer als kein zweiter Biologe in die Köpfe seiner Zeitgenossen drückte, interessierte doch auch die heute aufgegebene Position. Das macht das seltsam Gespaltene seiner Theorie aus. Nicht anders ist es übrigens bei einem der heute anerkanntesten Biologen, dem Harvard-Professor Edward O. Wilson, der die Mathematisierung der Gefühle als Ziel der Wissenschaft propagiert, gleichzeitig aber den Wert jeder einzelnen Art in zarten Worten preist und die wahre Richtung unserer Seele als "Biophilie", als Liebe zum Lebendigen, beschreibt.

Vermutlich lösen sich solche Widersprüche erst auf, wenn wir uns einer Einsicht stellen: Wir können Schönheit nur wieder verstehen, wieder dulden, wieder als Leitstern ertragen, wenn wir uns nicht länger der Frage verschließen, was Leben ist. Und nur dann haben wir auch eine Chance, die Natur oder das, was von ihr bis dahin geblieben sein wird, zu bewahren.

Wie wäre es dafür mit einem neuen Forschungsprogramm? Zur Rettung unserer Natur und des sie umspinnenden unauslotbaren Netzes unseres menschlichen Wesens, zur Rettung der Seele könnte sich eine kleine Umschichtung des Bildungshaushalts doch lohnen. Dieses neue Programm würde allerdings auf die fest zementierte Trennung der Pfründen in Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler, in Techniker und Künstler, in Beobachter und Politiker pfeifen.

Die anziehende Fülle des Lebens

Es könnte vorläufig folgender Devise gehorchen: Schönheit ist die Selbsttransparenz der Lebendigkeit, das sprachlose Sichtbarwerden ihres Grundcharakters - Kreativität, Gefühl, Übermut, Sympathie, Schmerz und Liebe - in allen Formen auf einer Skala vom vollkommen unbewusst Körperlichen bis zum total künstlich Geistigen. Diese Idee der Schönheit besagt, dass wir in ihr Wahrheit über das Leben vernehmen, dass wir diese aber nicht wissenschaftlich erfahren, als Erklärung, sondern poetisch, als Gefühl. Wir wissen es doch längst: Jedes lebensvolle Gesicht ist schön. Und jedes Wesen, und sei es noch oder gerade so bizarr wie Haeckels Medusen, vermag darum anzuziehen: weil es - gerade unbewusst! - Leben in Fülle hat. Dies war Haeckels intuitive Erkenntnis, mit der er die Subversion seiner eigenen darwinistischen Thesen betrieb. Haeckel war ja gerade von dieser überwältigenden Manifestation des Vitalen, von seiner Ausdrucksfähigkeit gebannt. Man denke an des jungen Forschers Nächte vor seinem improvisierten Labortisch in italienischen Hotels, an dem er immer tiefer in die Welt unbekannter Formen hinabtauchte.

Es ist ja nicht so, dass diese Fülle heute keinen mehr interessierte. Ganz im Gegenteil. Nur den Hütern der offiziellen Wahrheit, den Universitätsprofessoren und den Feuilletonredakteuren, ist sie suspekt, denn sie wirft alles, was sie gelernt haben, über den Haufen. Sie ist schön, und sie ist real.

Aber die Abstimmung mit den Füßen zeigt: Natur ist eine tragende Säule unserer Alltagskultur geworden. Tier- und Landschaftsfilme füllen Fernsehprogramme zur besten Sendezeit. Der grüne Rand ums Haus, Zimmerpflanzen, sogar das Blumenmuster auf Tellern und Tapeten holen Vegetatives ins nächste Lebensumfeld. Im kleinsten Apartment ist Platz für Hund, Fisch oder Ziervogel. Und in den Ferien gilt: bloß weg, in "unberührte" Länder.

Natur, so scheint es, ist dem Menschen ein elementares Bedürfnis - und das offensichtlich in dem Maß mehr, wie das Reservoir erlebbarer unberührter Landschaft schrumpft. Wir hängen an Tieren und Pflanzen wie an einer Nabelschnur. Denn in seinem Leib ist der Mensch selbst Natur. Unser innerer Kern ist körperlich, organisch und unserem rationalen Denken letztlich entzogen. Das Zentrum dieses Mysteriums bildet das Schöne.

Nur die Erfahrung des Schönen lotet das Volumen möglicher Erfahrungen aus - ohne Worte, aber doch auf eigene Art höchst rational: Die Vernunft des Schönen nämlich entspringt den organischen Gesetzen, denen das menschliche Leben ebenso unterliegt wie das der Tiere und Pflanzen. Die elementarsten Möglichkeiten, das Wunder des Aufblühens und die Verzweiflung des Zerfalls, ragen mit ihren Wurzeln ins Dunkel unserer Psyche hinein, die uns darum verborgen ist, weil sie vom Auf und Ab unseres Körpers regiert wird. In diesem Sinn ist die vegetative Welt um uns mit der Psyche in uns identisch. Ihr hält die Natur einen stummen Spiegel vor. Sie drückt vor mir aus, was in mir ist.

Die Natur offenbart ihr Geheimnis nicht dem Argument und nicht der biochemischen Analyse. Sie zeigt es - als Geste und als Gestalt, als Eindruck von Licht und Wärme, von Dunkel und Verfall, von Härte und Dauer, von Wachstum und Wiederkehr. Wir können den letzten Sinn, der uns nebelhaft bleibt, dennoch erfassen, weil wir dazugehören. In der Koralle, im stiebenden Fischschwarm stecken ebenso viele Schichten des Erlebens wie in mir selbst, wenn ich meine Ausdauer vernehme, meine Wehmut. Das ist eine Objektivität, die sich nie auf den Nenner einer Zahl reduzieren lassen wird. Und doch ist sie es, die wir alle, alle Lebewesen, verstehen. Es ist der poetische Kern des Kosmos, der sich auf diese Weise einen Ausdruck bahnt.

Was in Haeckels Bildern mitschwingt, was sie auch heute noch anrührend macht, ist nicht ihre stammesgeschichtliche Präzision. Es ist diese Ergriffenheit, es ist die Möglichkeit, in der Freude ohne Worte zu uns selbst zu kommen. Eine Zeitgenossin Haeckels, die Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé, brachte diese Einsicht wie wenige zum Ausdruck, als sie - ebenfalls bereits anachronistisch - in einem Brief notierte: "Man kann doch die Blättchen und Blütenköpfchen nicht sehen, ohne zu wissen: Man ist ihnen verwandt. Der Frühling sagt es so laut, dass auch wir Frühlinge sind. Denn dies ist der Grund unseres Entzückens an ihm."

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